Alle kennen sie, alle lieben sie: Gemeint sind Banking-Apps – oder können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie das letzte Mal an einen Automaten gegangen oder einen manuellen Überweisungsträger ausgefüllt haben, um eine Abbuchung von Ihrem Konto zu veranlassen? Allein der Gedanke daran erscheint ähnlich antiquiert wie der Gang zum nächstgelegenen Münztelefon.
Von außen betrachtet wirkt es so, als wäre die Welt der Banken im 21. Jahrhundert angekommen – dort, wo die eigenen Finanzen genauso schnell und bequem verwaltet werden können, wie sich eine Amazon-Bestellung aufgeben lässt. Kein Wunder, dass sich die Banking-App unserer Hausbank nicht mehr aus unserer Hosentasche wegdenken lässt. Tja, nur leider gibt es eine schlechte Nachricht: Das alles ist nur Fassade.
Keine große Bank ist im digitalen Zeitalter angekommen
Während immer mehr Branchen ihre Infrastrukturen umstellen und beginnen, Daten im großen Stil zu nutzen, gibt es keine einzige etablierte Bank, die vollständig im digitalen Zeitalter angekommen ist. Das liegt auch daran, dass sie sich – wenn überhaupt – nur kleine Teilbereiche ihres monströsen Apparats digitalisieren, um diese zu automatisieren oder neue Dienstleistungen hinzuzufügen, die Kund:innen oder dem Einzelhandel neue Vorteile bieten sollen. Gemessen an dem, was zu tun wäre, handelt es sich hierbei aber gerade einmal um wenige Prozent.
Am Backend, dem Gerüst, das der scheinbar hübschen Fassade zugrunde liegt, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nämlich kaum etwas geändert. Selbst im modernen Zeitalter von Open Banking, integrierten Finanzprodukten und Kryptowährungen werden echte Innovationen von den Hemmschuhen der Vergangenheit ausgebremst, weshalb keine etablierte Bank in der Lage ist, ihren Privat- und Geschäftskund:innen wirklich moderne Lösungen anzubieten.
Der Grund, weshalb Banken sich heute so dagegen sträuben, ihr gesamtes Grundgerüst digital zu transformieren, liegt irgendwo in der Vergangenheit. Oft haben sie es nämlich schon einmal mit „dieser Digitalisierung“ versucht – dabei hatten viele allerdings große Schwierigkeiten oder sind sogar komplett gescheitert: Vielleicht war der Ansatz falsch – anstatt Schritt für Schritt vorzugehen, hat die Bank versucht, das gesamte System auf einmal zu ersetzen? Oder das Management dachte, es reicht die Technologie zu modernisieren – ohne, dass die Unternehmenskultur verändert werden muss?
Seitdem scheint für viele Banken das Motto zu gelten: Was damals schon nicht geklappt hat, probiere ich lieber gar nicht nochmal aus. Doch wo kämen wir hin, wenn diese Einstellung der Standard wäre? Milliardenschwere Konzerne wie Apple, Google oder Amazon wären nie gegründet worden – und auch unsere Kinder würden vermutlich nie das Laufen lernen, schließlich braucht es auch hierfür mehr als einen kläglichen Versuch.
Transformation als fortwährender Prozess
Natürlich ist es nicht gerade ein einfaches Unterfangen, wenn die innere Struktur kernsaniert wird, während drum herum alles wie gewohnt weiterlaufen muss. Eine solche Transformation lässt sich nicht innerhalb weniger Monate bewerkstelligen – das soll sie aber auch gar nicht. Banken müssen aufhören, die Digitalisierung als etwas zu betrachten, das einen klaren Anfang und ein klares Ende hat. Stattdessen müssen sie beginnen, sie als einen fortwährenden Prozess zu begreifen.
Viele Banken führen bereits grandiose Digitalisierungsprojekte durch. Aber auch jene, die aktuell noch zu große Angst haben, sich nach ihrem ersten Versuch erneut an diese Herausforderung heranzuwagen, sollten dringend versuchen, sich aus ihrer Schockstarre zu lösen. Es wird Zeit, dass sie ihre Brille ablegen, die ihnen die Sicht auf das versperrt, was sich an ihren Geschäftsprozessen ändern muss, damit sie auch in Zukunft noch mithalten können – und damit das Finanzwesen nicht als vereinsamter Tattergreis hinter anderen Branchen zurückbleibt.
Am Ende ist es so, als würde man ein Schwein mit Lippenstift bemalen – zumindest lautet so ein Sprichwort bei uns im kleinen Estland. Im Vergleich zum riesigen, sperrigen Deutschland handelt es sich bei dem baltischen Staat um so etwas wie ein Start-up – und dort wird die Innovationskultur, bei der es dazu gehört, Neues auszuprobieren, zu scheitern und alternative Lösungen zu finden, nicht nur in Kauf genommen, sondern ganz bewusst groß geschrieben.
In Estland weiß man, dass es nicht ausreicht, die Fassade hübsch aufzupolieren. Was dahinter verborgen liegt, wird immer wieder an die Oberfläche kommen. Und genauso ist es auch mit den Banking-Apps. Auch hier wird der Moder der vergangenen Jahrzehnte irgendwann zum Vorschein kommen. Und wenn dies der Fall ist, wird es ihnen nichts nützen, dass ihre Smartphone-Applikationen doch so schön einfach zu bedienen sind und dabei auch noch gut aussehen.
Der Technologie-Expoerte Sergei Anikin ist CEO der estnischen Core-Banking-Plattform Tuum und verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung in Führungspositionen bei Technologie-Unternehmen wie Skype, Microsoft und der Swedbank.
Ove Kreison ist Chief Technology Officer und Mitgründer von Tuum. Zuvor leitete er die Forschung und Entwicklung beim Finanztechnologie-Dienstleister Icefire, das 2021 von Checkout.com übernommen wurde.