Standpunkte Barrierefreiheit ist kein Add-on – sondern Grundbedingung für digitale Sicherheit

Was schützt, muss auch zugänglich sein. Wer digitale Sicherheit ohne Barrierefreiheit denkt, riskiert Ausgrenzung und verliert Vertrauen. Das neue Barrierefreiheitsstärkungsgesetz zeigt: Teilhabe ist keine Nebensache mehr, sondern Voraussetzung für Resilienz im digitalen Raum, findet Ari Albertini von FTAPI.
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Jetzt kostenfrei testenBarrierefreiheit galt in der digitalen Transformation lange als Nebenschauplatz. Als ethisches Ziel, das man bei Gelegenheit mitdenkt, aber selten zur strategischen Priorität erhebt. Doch diese Haltung hat sich überlebt. Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), das am 28. Juni 2025 in Kraft getreten ist, wird digitale Zugänglichkeit zur gesetzlichen Pflicht: Zahlreiche digitale Produkte und Services, die sich an Verbraucherinnen und Verbraucher richten – darunter E-Commerce-Plattformen, Online-Banking oder Betriebssysteme – müssen künftig barrierefrei gestaltet sein.
Diese gesetzliche Regelung ist kein Selbstzweck. Sie reagiert auf ein strukturelles Defizit, das längst bekannt ist: Wer Seh-, Hör-, motorische oder kognitive Einschränkungen hat, stößt oft auf unüberwindbare Hürden – beim Einloggen, beim Bezahlen, beim Abrufen von Informationen.
Das Ziel ist also klar: Niemand soll aufgrund einer Behinderung oder altersbedingter Einschränkungen von digitalen Dienstleistungen ausgeschlossen werden. Und das ist mehr als ein humanistisches Ideal – es ist eine infrastrukturelle Notwendigkeit. Denn digitale Angebote, die nicht für alle funktionieren, funktionieren langfristig für niemanden.
Teilhabe ist ein Standortfaktor
Digitale Teilhabe ist längst kein Nischenthema mehr. Sie entscheidet über Vertrauen, wirtschaftliche Anschlussfähigkeit und Zukunftssicherheit – in Unternehmen ebenso wie in Behörden. Was auf den ersten Blick wie ein regulatorisches Detail erscheint, ist in Wahrheit ein systemischer Hebel. Wer digitale Angebote entwickelt, trägt Verantwortung: nicht nur für Performance, sondern auch für Zugang und Verständlichkeit.
In Deutschland leben rund 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigung. Hinzu kommt: Zwei Drittel der Menschen stoßen laut einer Befragung der Aktion Mensch im Alltag auf Barrieren. Diese Zahlen zeigen, dass digitale Lösungen, die sich an Barrierefreiheit orientieren, eine breite gesellschaftliche Relevanz haben und so die Qualität für alle erhöhen.
Deutschland steht hier vor einer doppelten Herausforderung. Einerseits liegt die Bundesrepublik im europäischen Vergleich bei der Umsetzung barrierefreier digitaler Angebote im hinteren Drittel. Andererseits häufen sich gleichzeitig Anforderungen an Datenschutz, Sicherheit und Nachvollziehbarkeit. Gerade im öffentlichen Sektor – von der Verwaltung über das Gesundheitswesen bis zur Justiz – ist der Spagat zwischen technischer Sicherheit und sozialer Zugänglichkeit bislang nicht zufriedenstellend gelungen. Dabei könnten barrierefreie und zugleich sichere Anwendungen Vertrauen in digitale Prozesse stärken. Dazu braucht es jedoch mehr als gesetzliche Mindeststandards. Es braucht ein Umdenken. Barrierefreiheit muss von Anfang an mitgedacht werden, auch in sicherheitskritischen Bereichen.
Sicherheitsfunktionen, die ausschließen, untergraben ihre eigene Schutzwirkung
Denn die zweite große Leerstelle liegt in der Cybersicherheit. Schutzmechanismen, die Menschen ausschließen, verfehlen ihren Zweck. Wenn Sicherheitsdialoge nicht für Screenreader lesbar sind, wenn Zwei-Faktor-Verfahren bestimmte Geräte oder physische Mobilität voraussetzen oder Fehlermeldungen so kryptisch formuliert sind, dass sie mehr verwirren als helfen, entsteht Unsicherheit und Misstrauen. Und genau dieses Misstrauen kann die Resilienz digitaler Infrastrukturen schwächen.
Sicherheit beginnt nicht erst bei Verschlüsselung und Zugriffsschutz. Sie beginnt bei der Frage, wer überhaupt sicher teilnehmen kann. Dabei geht es nicht nur um Menschen mit Behinderung. Wer barrierefrei entwickelt, erhöht die Verständlichkeit für alle. Technische Schutzsysteme müssen auch in Ausnahme- und Belastungssituationen funktionieren: für Menschen mit motorischen Einschränkungen, für Nutzer mit kognitiven oder sensorischen Barrieren, für Ältere, für Menschen mit temporären Beeinträchtigungen. Wer den Zugriff von Befugten behindert, riskiert, dass Schutzmaßnahmen ins Gegenteil umschlagen – und das Vertrauen in die Technik erodiert.
Cybersicherheit und Barrierefreiheit gehören zusammen
Wer Schutz wirklich ernst nimmt, muss ihn für alle ermöglichen. Und das bedeutet: verständlich, zugänglich, inklusiv. Barrierefreiheit und Cybersicherheit sind keine Gegensätze – sie bedingen sich gegenseitig.
Was heute als Pflicht für E-Commerce und digitale Dienste gilt, wird morgen Maßstab für alle digitalen Infrastrukturen sein. Deshalb ist es klug, das Thema sowohl juristisch als auch strategisch zu betrachten. Digitale Anwendungen, die universell nutzbar sind, erreichen mehr Menschen. Sie verbessern die Nutzererfahrung und senken langfristig die Kosten für Support, Nachbesserungen oder Rechtskonflikte. Inklusive Sicherheit ist ein Wettbewerbsvorteil: sie schafft Vertrauen – intern wie extern. Und sie trägt dazu bei, dass technologische Lösungen tatsächlich zur gesellschaftlichen Lösung werden.
Vertrauen ist nicht nur ein Gefühl – es ist ein Designziel
Vertrauen entsteht, wenn Menschen sich gesehen fühlen. Wenn Anwendungen nicht nur funktionieren, sondern auch verständlich und nutzbar sind. Wenn Sicherheitsfunktionen nicht als Hürde, sondern als Unterstützung erlebt werden. Und wenn Teilhabe nicht erkämpft werden muss, sondern selbstverständlich ist.
Ari Albertini ist CEO bei FTAPI, einem Unternehmen, das Software für sicheren Datenaustausch anbietet. Albertini verfügt über mehr als 10 Jahre Erfahrung im Bereich der Strategieentwicklung, IT-Beratung, Software Development sowie Produktkonzipierung. (Foto: FTAPI)
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