Es ist Corona-Pandemie und keine(r) weiß, was genau los ist. Regierung und Verwaltung fahren auf Sicht, jedenfalls nach eigenen Bekunden. Es mutet aber eher als Fahren nach Gehör an. Wenn es scheppert, war etwas falsch.
Der Marsch durch die Infektionen ist wie der „lange Marsch durch die Institutionen“, den die Studentenbewegung 1967 propagierte. Auch hier hatte alles in China seinen Ursprung, der lange Marsch von Mao ist zumindest in der theoretischen Reflexion unvergessen.
Während beim Marsch durch die Institutionen die Permanenz-Revolutionäre im Vorteil sind, erfordert der Marsch durch die Infektionen eine virologische Grundqualifikation, entsprechende Gelassenheit und die Bereitschaft immer wieder neue Entscheidungen zu treffen. Also kein Feld für überstolpertes Vorgehen! Dies funktioniert nicht wie bei „Deutschlands Superhirn“: „Top, das Superhirn denkt.“
Topdown lockdown!
Die Entscheidungen greifen in Gesellschaft und Wirtschaft ein. Persönliche Grundrechte werden eingeschränkt: Wohin mit der Freiheit, wenn die Gesellschaft geschlossen hat?!
Weder ein Corona-Absolutismus noch die Ignoranz der Gesundheitsgefahren können Leitbild für die wirksame Krisenbewältigung sein. Hier ist eine „Staatskunst“ gefordert, die gesundheitliche Risiken reduziert und einen verlässlichen Handlungsrahmen für die Entwicklung gibt. Die politisch verantwortlichen Digitalisiererinnen und Digitalisierer müssen Konzepte für eine Digitale Daseinsvorsorge liefern.
Krise als Treiber für Digitalisierung?
Kluge Professorinnen und Professoren und Unternehmensberaterinnen und -berater haben die Krise als Treiber für die Digitalisierung ausgemacht. Da kann man nur den Hut ziehen. Irgendwie haben es alle natürlich auch selbst gemerkt. Aufbruchsstimmung auch in der Beraterszene: „Die Chance sollte man nutzen! Das geht natürlich nur mit Unterstützung durch qualifizierte Unternehmensberatungen.“
Die Diagnose ist also richtig. Der Schub ist da! Politische Entscheiderinnen und Entscheider fordern Digitalisierung konkret ein. Die Verwaltungen bei Bund, Ländern und Kommunen haben regional und zielgerichtet die vorbereitenden Projekte auf den Weg gebracht. Die Verwaltungen verbessern die IT-Infrastruktur und die einzelnen Anwendungen. Insgesamt erzeugt die Krise offensichtlich mehr „Entscheidungsfreude“, heißt, der Handlungsdruck wird erhöht. Die Ausrede „Kein Geld!“ zählt nicht mehr. Im Safe des IT-Planungsrates lagern Milliarden aus dem Konjunkturprogramm der Bundesregierung für neue Innovationen. Wer bekommt den Schlüssel für den Safe?
Auch hier ist jetzt die „Staatskunst“ gefordert. Ein unbürokratisches Entscheidungsverfahren über Schwerpunkte und gezielte Umsetzung sind notwendig. Beim Onlinezugangsgesetz (OZG) wird die zweite Halbzeit angepfiffen. Die muss genutzt werden. Das Warten auf die Nachspielzeit bringt es nicht. Und: Eine dritte Halbzeit gibt es nicht.
Nicht alles klappt!
Die Corona-App ist das neue Sinnbild! „Contact-Tracing“ das Gebot der Stunde. Es geht dabei eher zu wie im Varieté beim App-Jongleur. Lernen wir von David Bowie und setzen auf die „Corona Groundcontrol“: Social Distancing, Unterbrechung der Infektionsketten, etc. sind kein technisches Problem, sondern ein sozialer Prozess. Wenn die Technik soweit ist, müssen die Menschen überzeugt werden, sich auch zu beteiligen. Die App-Nutzung kann nicht wie eine Impfpflicht verfügt werden.
Himmel, Hölle, Homeoffice!
Entspannt die Arbeit genießen?! Digital ist das neue „Normal“. Zu Hause
arbeiten ist wie Schokolade oder Joggen: Zuviel davon, dann kann einen schlecht
werden. Die Tücken des neuen Schlabberlook-Proletariats
müssen erst noch genau erforscht werden. Was für die einen eher Hausarrest mit Fußfessel ist, ist für
die andere wohlige Häuslichkeit mit schöpferischer Betätigung. Natürlich kann
das Dilemma auch persönlichkeitszerstörende Identitätsprobleme auflösen: Mache
ich meine Arbeit zu Hause, oder lebe ich im Büro?
„Work from Home“ ist die sprachliche Alternative. Das klingt vertrauter, privater und zurückgenommener. Bei Homeoffice könnte noch jemand auf die Idee kommen, es wäre ein ausgelagertes Büro. Office gleich Büro, die Einhaltung von ergonomischen Arbeitsschutzrichtlinien steht vor der Tür.
Der Immobilienmarkt müsste sich deshalb neu sortieren: Neu: Wohnung mit Einliegerbüro. Videokonferenzen könnten das Stadtbild verändern, wenn der WLAN-Schweif über der Stadt liegt. Ein Gefühl von digitalen Sternschnuppen.
Kontaktunterbrechung gegen alle Arten von Viren
Die Quarantäne schützt vor Corona-Viren! Aber ist der Computervirus im Homeoffice abgewehrt? Der sicherste Weg ist auch hier die Kontaktunterbrechung. Digital Distancing wird die neue Erfolgsstrategie für Cyber-Security.
Was hier noch individuell lösbar erscheint, kann aber auch total schiefgehen. Digitalisierung wird die zentrale Antwort auf die Krise. Cyberkriminalität hat ein noch größeres Betätigungsfeld. Es konnte eine virtuelle Pandemie initiiert werden. Konsequenzen: kein Strom, keine Netzverbindungen, kein Zahlungsverkehr. Ein wahrhafter Shutdown. Hier liegt ein Handlungsfeld der Zukunft.
Mehr als WLAN: Vom „fliegenden Klassenzimmer“ zum digitalen Lernraum
Einst, als gerade die Fotokopie als Errungenschaft durch die E-Mail abgelöst wurde, wurde nach einem Umbau der Bremischen Bürgerschaft bei der Wiedereröffnung der altehrwürdige Bürgerschaftspräsident Reinhard Metz von einem kecken Journalisten gefragt: „Wo ist denn der Chatroom?“. Der gewiefte Politiker: „Junger Mann, haben sie Verständnis, so genau kenne ich die Baupläne leider nicht!“.
Diese politische Schlauheit nützt heute allerdings nichts mehr. Bildungspolitikerinnen und -politiker von heute müssen schon genauer wissen, was los ist: Schulen bauen und sanieren und gleichzeitig eine digitale Infrastruktur aufbauen. Das ist eben nicht nur WLAN für alle! Viele Bildungsbürokraten reduzieren die neuen Herausforderungen trotzdem leider auf die Frage des „Blechs“, besser gesagt, der Endgeräte. Bei den Haushältern finden sie oft Verbündete: Man kann sprichwörtlich sehen, wo das Geld geblieben ist.
Da können erfahrene Bildungsstrateginnen und -strategen nur Otto Rehhagels Meistertrainer-Weisheit heranziehen: „Das Spielgerät ist eine Voraussetzung, dass es losgehen kann. Entscheidend ist dann allerdings auf dem Platz!“.
Es geht also nicht um die Elektrifizierung der bestehenden klassischen Schule. „Think big“ ist gefordert! Neue Formen und Inhalte des Lernens in einer „Digitalen Infrastruktur“ stehen auf der Tagesordnung der Bildungspolitik, nicht nur die Einrichtung eines virtuellen Klassenzimmers.
Lehrer Lämpel: „Das Ende der Kreide- und Papierzeit kam quasi über Nacht.“ Klassische Lehrbeamte, sonst gar nicht so selbstreflektierend, gestehen sich also ein, dass die digitale Schule sie unvorbereitet erwischt hat. KMK-Funktionäre und aufgeklärte Bildungsplanerinnen und -planer freuen sich dabei diebisch über das Inanspruchnehmen neuer Möglichkeiten im Zeitraffer. Dafür nimmt man die Pandemie zwar widerwillig, aber „billigend“ in Kauf!
Nutzen wir Erich Kästners liebevollen und sozialen Fantasien auf dem Weg vom Internat zum Internet und schreiben neue Schulgeschichte und kommen wie einst Günther Netzer aus der Tiefe des digitalen Raums!
Henning Lühr ist Finanzstaatsrat und CIO in Bremen. Nach einer Ausbildung für den gehobenen Verwaltungsdienst in der Landes- und Kommunalverwaltung in Niedersachsen studierte er Rechtswissenschaften, Betriebswirtschaft und Geschichte an der Universität Bremen. Für Bremen sitzt Lühr im Bund-Länder-Gremium IT-Planungsrat, dessen Vorsitzender er im vergangenen Jahr war. Er ist inzwischen der dienstälteste Finanzstaatssekretär in Deutschland. Ende Juli wird er sich in den Ruhestand verabschieden.