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Digitalisierung & KI

Standpunkte Die Chancen von KI-Reallaboren nutzen

Wolfgang Steiger, Generalsekretär CDU-Wirtschaftsrat
Wolfgang Steiger, Generalsekretär CDU-Wirtschaftsrat Foto: Jens Schicke

Die vom Maschinen- und Anlagenbau geprägte deutsche Wirtschaft hat enorme Chancen, unter Einsatz von Künstliche Intelligenz (KI) in der digitalen Wertschöpfung in Führung zu gehen, ist Wolfgang Steiger vom CDU-Wirtschaftsrat überzeugt. Dafür darf der AI Act aber kein Regulierungsmonster werden, sondern sollte vielmehr die praktische Anwendung in den Blick nehmen.

von Wolfgang Steiger

veröffentlicht am 06.04.2023

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Seit zwei Jahren wird in Brüssel über den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Regulierung der Künstlichen Intelligenz, dem AI Act, beraten. In dieser Zeit sind Regelungen eingegangen, die eine Überregulierung der Schlüsseltechnologie bedeuten. Der AI Act entwickelt sich zum Regulierungsmonster, das industrielle Anwendungspotenziale für Innovationen zu ersticken droht.

So wollen insbesondere die linken Fraktionen im Europä­ischen Parlament einfache regelbasierte Algorithmen oder auch komplexe Softwaresysteme als KI-Systeme definieren. Folgt das Europäische Parlament diesem Ansatz, mutiert der AI Act zu einem „Technologie-Act“, der praktisch jede komplexe Software unter einen KI-Begriff zusammenfasst. Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, warum sich das Europäische Parlament nicht an der OECD-Definition von KI orientiert. Damit wäre letztendlich auch für die international ausgerichtete deutsche Wirtschaft eine einheit­liche Definition auf den relevanten Exportmärkten gegeben.

Anwendung fördern, statt Einsatz regulieren

Grundsätzlich erliegen die Gesetzgeber in Brüssel dem Irrglauben, KI per Regulierung steuern und Hochrisiko-Anforderungen vorhersagen zu können. Ziel muss doch vielmehr sein, in einem zeitlich begrenzten Rahmen die Anwendung von KI mit unterschiedlichen und umfangreichen Datensätzen zu testen und zu trainieren. Hierfür braucht es allerdings kein Regulierungsmonster „AI Act“, sondern ein Rahmenwerk, das Standards für Reallabore als Experimentierräume aufstellt.

Reallabore wären insbesondere für Deutschland in zweierlei Hinsicht von Vorteil. Erstens zählt die Forschung in Deutschland auf dem Gebiet der KI weltweit zu den füh­renden. Für Forschungseinrichtungen sind Reallabore notwendig, um unter Testbedingungen mit klaren Standards und mit ausreichend großen Trainingsdatensätzen die KI-Algorithmen zu überprüfen und weiterentwickeln zu können.

Damit geht die Chance einher, dass bei der neuen Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts der Transfer deutscher Spitzenforschung in die Praxis endlich gelingt. Reallabore bringen für die wissen­schaftliche Forschung einen vor­teilhaften Nebeneffekt mit sich: Die Forschung könnte stärker als in der Vergangenheit tatsäch­liche Businessmodelle ihrer Entwicklungen erkennen – schaffen sie doch die verantwortungs­vollen Grundlagen für vertrauensvolle Marktanwendungen von Zukunftstechnologie.

Vertrauensräume für KI als Wettbewerbsvorteil

Vielmehr noch verschaffen KI-Reallabore den Unternehmen den Vorteil, ihre Algorithmen anhand von zu Verfügung gestellten Testdaten oder eigens aggregierten Daten auf Qualität und Sicherheit hin zu überprüfen. Das leistet einen wesentlichen Beitrag, die Technologie zu verstehen und ihr zu vertrauen.

Unter definierten Bedingungen europäischer Reallabore könnten so auch in einem „geschützten Raum“ persönliche Daten verwertet werden. Ein nach EU-Standards zertifizierter Experimentierraum wäre vor allem dann von Mehrwert, wenn Teilnehmern nach Beendigung des Reallabors von einer nationalen Behörde attestiert wird, dass ihre Anwendung konform zum AI Act ist. Letztendlich schafft ein solcher Compliance-Nachweis einen kompetitiven Vor­teil auf den internationalen Märkten. Denn in Zeiten der Systemwettbewerbe insbesondere zwischen den USA und China beziehungsweise zwischen Liberalität und Datenkontrolle kann der Europäische Binnenmarkt einen eigenständigen Weg beschreiten.

Wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass die KI-Reallabore in der EU offen gehalten werden und einen Zusammenschluss von Unternehmen und KI-Experten virtuell oder real ermöglichen. Auch kleinen und mittelgroßen Unternehmen sowie Start-ups muss ein einfacher Beitritt zu Reallaboren möglich sein.

Will Deutschland im Alleingang Reallabore regulieren?

Es ist der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament hoch anzurechnen, dass sie sich durchgesetzt hat und die Reallabore nun im AI Act aufgenommen wurden. Im nächsten Schritt braucht es allerdings ein einheitliches Verständnis von „Regulatory Sandboxes“. Hier scheint es bereits in der deutschen Bundesregierung unterschiedliche Auffassungen zu geben. Dem Vernehmen nach sind Teile der Bundesregierung bestrebt, im nationalen Alleingang Reallabore in Deutschland zu regulieren. Das widerspricht völlig dem europäischen Ansatz. Grundsätzlich drängt sich der Eindruck auf, dass die Regierung den Regulierungssandkästen kaum Aufmerksamkeit schenkt. Dabei hatte das Bundeskabinett vor rund zwei Jahren die sogenannte Experimentierklauselprüfung beschlossen, mit der die Möglichkeit des „Ausprobierens“ gestärkt werden soll.

Überdies gewinnt man in Brüssel den Eindruck, dass die deutsche Bundesregierung zentrale Dossiers wie den AI Act mit wenig Interesse verfolgt. Dass sich SPD und FDP im Nachgang des Ratsbeschlusses noch einmal eigens positionieren, sendet ein fatales Signal der Uneinigkeit innerhalb der Bundesregierung aus. So gelangt man nicht zur Verhandlungsführerschaft einer für die deutsche Wirtschaft so zentralen Schlüsseltechnologie der Zukunft.

Der aktuelle Berichtsent­wurf des Europäischen Parlamentes sieht in den aktuellen Kompromissformulierungen zu Artikel 53 eine gute Ausgangsbasis für eine europaweit einheitliche Einführung von Reallabo­ren in den Mitgliedstaaten vor. Dieser Kompromiss darf in den Trilog-Verhandlungen nicht unter die Räder kommen, hier steht die Bundesregierung in der Pflicht.

Hessen und NRW gehen voran

Für Deutschland ergibt sich aktuell die Chance, Pionierarbeit zu leisten und Reallabore in Einklang mit der europäischen Stoßrichtung zu ermöglichen. Nordrhein-Westfalen hat mit seinem Projekt Digi-Sandbox NRW gute Vorarbeit geleistet. Mit Blick auf die Anwendungspo­tentiale der Künstlichen Intelligenz ist der jüngste Vorstoß in Hessen interessant. Es ist beein­druckend, wie das Land Hessen strategisch vorangeht und den bundesweit ersten „AI Quality and Testing Hub (AIQ)“ ins Leben gerufen hat. Die hessische Digitalministerin hat damit genau den Beitrag geleistet, um den Sorgen vor KI-Systemen Transparenz und Vertrauen entgegenzustellen.

Wenn wir es in Deutschland und Europa schaffen, eine qualitative und vertrauensvolle KI in die Praxis zu bringen, können wir weltweit Standardsetzer sein. Vorstöße wie der AIQ sind richtig, damit wir die Technologie auch nach unseren Vorstellungen entwickeln lassen können. Die Bundesregierung wird sich daran messen lassen müssen, ob sie sich auf europäischer und internationaler Ebene für die Chancen einsetzt oder aber in Angststarre verfällt.

Reallabore schaffen ein Verständnis von verantwortungs- und vertrauensvoller KI. Sie legen den eigentlichen Grundstein, auf dem eine KI-Regulierung aufzubauen wäre. Deutschland muss voran gehen, um Regulierung, Wettbe­werbsfähigkeit und Innovationskraft in Balance zu bringen.

Wolfgang Steiger ist Generalsekretär des Wirtschaftsrats der CDU.

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