Viele Unternehmen sehen in Open Source heute allein ein Entwicklungsmodell für Software. Dabei ist Open Source viel mehr als das: Es ist ein Kooperations- und Kollaborationsmodell, das Unternehmen hilft, neue Geschäftsmodelle und Produkte zu realisieren. Offene Kooperationsstrukturen steigern nachweislich die Innovationsgeschwindigkeit von Unternehmen. Darüber hinaus ist Open-Source-Software ein wichtiger Baustein technologischer Souveränität und ein wesentlicher Hebel zur Steigerung von Effizienz und Nachhaltigkeit in der Industrie. Mehr denn je kommt es aber darauf an, dass Unternehmen öffentlich verfügbare Software nicht nur nutzen, sondern sie auch aktiv mitgestalten – in einem gemeinschaftlichen Prozess mit anderen Marktteilnehmern. Die Expertise „Open Source als Innovationstreiber für Industrie 4.0“ des Forschungsbeirats Industrie 4.0 hat bereits aufgezeigt, welche Handlungsoptionen Unternehmen hier haben – und dass es durchaus noch Rückenwind von Wirtschaftsverbänden und aus der Politik braucht.
Die vielen Vorteile der gemeinschaftlichen Entwicklung von Open-Source-Software liegen auf der Hand: Sie reichen von der Reduzierung von Kosten und Aufwänden über die Steigerung der Entwicklungsgeschwindigkeit bis zur De-facto-Standardisierung durch die breite Verwendung gemeinsamer Komponenten und Schnittstellen. Vor diesem Hintergrund könnten Open-Source-Beiträge von Unternehmen sogar als Bewertungsmaßstab für Innovationskraft herangezogen werden – zum Beispiel auch als alternativer Indikator bei der Unternehmensbewertung.
Never Walk Alone – alleine funktioniert es nicht
Im Spannungsfeld zwischen Wettbewerb und Kollaboration sind viele Unternehmen noch nicht bereit, Ergebnisse aus der Softwareentwicklung zu teilen. Sie fürchten ihr Know-how zu „verschenken“, wenn sie Entwicklungen mit anderen teilen oder der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. In der Tat leben viele Logistikunternehmen von Informationsasymmetrien, jedoch eignen sich Produkte, Prozesse und Services, die nicht marktdifferenzierend sind – sogenannte „Commodities“ – sehr gut für Open-Source-Entwicklungen.
Mit einer gemeinschaftlichen Entwicklung quelloffener Komponenten für solche Services sorgen die Unternehmen dafür, dass alle Systeme kompatibel sind und bereiten damit einem Standard für die gesamte Branche den Weg, von dem alle profitieren.
Allerdings gibt es derzeit noch einige Hindernisse: Traditionelle Produktentwicklungszyklen und Vorgehensweisen in Unternehmen stehen häufig im Gegensatz zur agilen und schnelllebigen Softwareentwicklung im Open-Source-Bereich. Zahlreichen Unternehmen fehlt zudem noch das Vertrauen in die Qualität von Open-Source-Software. Dabei ist diese in der Regel zumindest besser dokumentiert als klassische Software. Da viele Unternehmen und viele Menschen an der Entwicklung beteiligt sind, werden Fehler gerade auch bei Anpassungen und Weiterentwicklungen schneller gefunden und behoben als bei proprietärer Software. Häufig bestehen auch Unsicherheiten in Bezug auf Patent- und Lizenzrecht. Hier können Organisationen wie die deutsche Open Logistics Foundation zum Beispiel mit rechtskonformen CLAs (Contributor License Agreement) weiterhelfen.
Community entscheidend für Erfolg
Wirklich entscheidend für den Erfolg einer Open-Source-Lösung sind heute Communities und das Ökosystem, das sich im Rahmen einer Projektentwicklung und Fortführung formt. Die Expertise zu Open Source für Industrie nennt als wesentliche Merkmale erfolgreicher Communities und Projekte unter anderem:
• die Art der Kommunikation beziehungsweise die Geschwindigkeit und Professionalität, mit der auf Anfragen oder Änderungswünsche reagiert wird.
• eine gute Dokumentation der Softwareentwicklung und der damit verbundenen Prozesse.
• die Aktualität der Projekte und die Intensität der Aktivitäten als Indikatoren für die Kraft und Reife der Community.
Ein weiteres Gütemerkmal ist es, dass die Beitragenden nicht alle aus derselben Organisation kommen. Erfolgen nur Beiträge durch ein einzelnes Unternehmen, könnte dies zu Abhängigkeiten führen oder die Attraktivität des Projekts, die mit zunehmender Diversität der Community steigt, schmälern.
Offene und faire Zusammenarbeit
Der Aufbau aktiver Communities ist gewiss kein einfaches Unterfangen. Geglückt ist dies zuletzt der Open Logistics Foundation, 2021 gegründet von den Logistikunternehmen Dachser, Duisport, Rhenus und DB Schenker. Sie haben die Potenziale von Open Source für die Digitalisierung von Logistik und Supply Chain Management früh erkannt. Die Stiftung ist heute auf dem Weg, die größte Open-Source-Community der Logistik in Europa zu werden. Der Community-Gedanke der offenen und fairen Zusammenarbeit verschiedener Unternehmen, die im freien Markt auch Mitbewerber sein können, ist der Kern der Stiftung. 28 Unternehmen aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden sind bereits Mitglied in der innovativen Gemeinschaft. Unternehmen entwickeln hier Open-Source-Lösungen auf Commodity-Ebene, also Produkte, Prozesse und Services, die nicht marktdifferenzierend sind.
Zu den Leuchtturmprojekten der Stiftung gehört der digitale Lieferschein eCMR. Er erlaubt den standardisierten Austausch von Lieferscheinen auf eigenen Open-Source-Plattformen – ohne die Einbindung Dritter. Auf dem Deutschen Logistikkongress 2023 stellten Dachser und Rhenus in einer gemeinsamen Pressekonferenz vor, wie sie die Open-Source-Software nutzen. Dass Mitbewerber über die gleichen Plattformen agieren und Daten austauschen, war vor kurzem noch schwer vorstellbar. Heute ist diese Art der Zusammenarbeit auch ein Zeichen für alle anderen Marktteilnehmer, dass sie einer Lösung vertrauen können, die so als Standard branchenweite Akzeptanz finden wird.
Damit jetzt noch mehr Unternehmen das Thema Open Source auf die Agenda setzen, gilt es allerdings auch, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen.
Open Source in Aus- und Weiterbildung verankern
Ingenieurwissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Studiengänge sollten neben der Forschung auch die Lehre zu Open-Source-Themen vertiefen. Vermittelt werden muss der Open Source-Ansatz nicht nur in der Informatik, sondern auch als Kollaborations- und Entwicklungsmodell im Rahmen der Innovationstheorie. Zukünftige Führungskräfte sollten lernen, dass nicht nur Patente ein Indikator für Innovationsfähigkeit sind, sondern auch die gemeinschaftliche Entwicklung nach dem Open-Source-Paradigma und in vitalen Communitys. Hier gilt es, ein neues Mindset zu etablieren, dies gilt auch für die Weiterbildungsangebote von Fach- und Nachwuchskräften. Hier stehen Verbände und Kammern in der Pflicht.
Anreize schaffen für Open Source
In der Wissenschaft sind die quelloffene Nutzung und Veröffentlichung von Forschungsergebnissen ohnehin gelebte Praxis. Gleichwohl mangelt es zu oft an deren Fortentwicklung über das Projektende hinaus. Auch hier kann der Open-Source-Gedanke und insbesondere die Förderung zum Aufbau entsprechender Communities einiges bewirken. Es fehlen jedoch nicht selten geeignete Kennzahlen und Förderinstrumente. Ähnliches gilt für die Wirtschaft: So mangelt es am Einsatz geeigneter Innovationskennzahlen zur Unternehmensbewertung ebenso wie bei der Schaffung steuerlicher Anreize für die Entwicklung und Bereitstellung von Open Source.
Denn die entscheidenden Entwicklungen rund um KI und Digitalisierung entstehen nicht mehr in den Köpfen Einzelner. Es gilt mehr denn je: Never Walk Alone.
Michael ten Hompel ist Inhaber des Lehrstuhls für Förder- und Lagerwesen an der Technischen Universität Dortmund, geschäftsführender Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML und einer der Direktoren des Lamarr-Instituts für Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz. Michael ten Hompel ist Mitglied im Forschungsbeirat Industrie 4.0 und der Acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften. Er gilt als Wegbereiter und Vorsitzender des Kuratoriums der Open Logistics Foundation.