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Standpunkte Ein digitales Wirtschaftswunder ist möglich

Oliver Grün
Oliver Grün, Präsident und Vorstandsvorsitzender des Bitmi Foto: Peter Winandy

Damit Deutschland und Europa digital souverän werden können, braucht es mehr als eine Open-Source-Quote. Stattdessen sollte die Digitalwirtschaft in ihrer ganzen Breite mobilisiert werden, schreibt Oliver Grün, Präsident des Bundesverbands IT-Mittelstand (Bitmi).

von Oliver Grün

veröffentlicht am 04.06.2025

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Deutschland steht an einem digitalen Wendepunkt. Die geopolitischen Spannungen, allen voran das transatlantische Zerreißmoment im digitalen Raum, führen uns vor Augen, wie groß die Risiken einseitiger Abhängigkeiten gegenüber außerkontinentalen Tech-Giganten mittlerweile geworden sind. Gleichzeitig benötigen wir dringend einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung. Die neue Bundesregierung hat die Zeichen der Zeit erkannt: Mit der Gründung des Bundesministeriums für Digitales und Staatsmodernisierung und dem politischen Aufbruch unter dem Leitbild „Next Germany“ wird die Stärkung der digitalen Souveränität zu einem zentralen Zukunftsprojekt der Bundesrepublik.

Das ist richtig und notwendig. Denn digitale Souveränität ist mehr als ein Schlagwort. Sie ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Deutschland im digitalen Zeitalter eigenständig handeln, wirtschaftlich erfolgreich bleiben und politische Gestaltungsfähigkeit bewahren kann. Über allem steht zudem die Notwendigkeit einer Europarechtstreue des jeweiligen Anbieters, das heißt, dass Rechteinhaber von digitalen Lösungen im europäischen Wirtschaftsraum angesiedelt sind und auch die Umsetzung des EU-Rechts garantieren.

Letzteres gilt für Tech-Konzerne aus Übersee nicht, sie unterliegen mit ihrer Governance aus den USA oder Asien immer auch den dortigen Gesetzen – am Beispiel der USA werden dort persönliche Daten nach US-FISA-Act auf Anforderung an US-Behörden ausgeliefert, dabei ist vollkommen irrelevant, in welchem Land gerade ein Rechenzentrum steht. Wir beim Bitmi begreifen digitale Souveränität darüber hinaus insbesondere aus zwei Perspektiven:

Resilienz: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen auch dann handlungsfähig bleiben, wenn der Zugang zu zentralen digitalen Diensten oder Plattformen eingeschränkt würde.

Wertschöpfung: Die digitale Ökonomie ermöglicht die Wertschöpfung der Zukunft. Deutschland muss in der Lage sein, eigene digitale Geschäftsmodelle zu skalieren, Plattformen zu betreiben und die zugrunde liegende Technologie selbst zu kontrollieren.

Wenn wir weiterhin digitale Lösungen größtenteils nur einkaufen, statt mehr eigene zukunftsfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln, dann werden wir Souveränität, Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand in massivem Umfang einbüßen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in unserer eigenen, in Deutschland beinahe ausschließlich mittelständischen Digitalwirtschaft.

Die deutschen Hidden Champions von morgen kommen aus der Tech-Branche

Ich bin überzeugt: Ein digitales Wirtschaftswunder ist möglich. Deutschland hat mit dem Wirtschaftswunder der vergangenen 70 Jahre bereits einmal bewiesen, dass wirtschaftlicher Aufbruch aus der Mitte der Gesellschaft gelingen kann. Was früher der Maschinenbau war, ist heute die Softwarebranche. Und was einst Hidden Champions in Industrienischen waren, sind heute Software- und Digitalmittelständler in Digitalnischen. Es gibt ein großes Angebot solcher Lösungen im B2B-Umfeld und sie sind damit der strategische Hebel für Souveränität.

Doch diese Anbieter werden im politischen Diskurs zu selten gesehen. Stattdessen erleben wir eine oft ideologisch geführte Debatte, in der proprietäre europäische Anbieter pauschal mit den US-Giganten gleichgesetzt werden. Wenn aber eine Behörde eine proprietäre deutsche Cloud-Lösung nutzt, ist das kein Problem, sondern ein strategischer Vorteil.

Open Source allein ist zu wenig

In der aktuellen Diskussion um europäische Tech-Stacks gibt es die Forderung, möglichst alles auf Open Source umzustellen. Open-Source-Software kann ein Baustein digitaler Souveränität sein, ist aber kein Garant. Dazu ist ihr Anteil an der Digitalwirtschaft mit etwa 20 Prozent auch viel zu gering. Entscheidend ist vielmehr nicht der Lizenztyp, sondern ob Systeme funktional, steuerbar, nachvollziehbar, resilient und lokal betreibbar sind und sich dem Zugriff europäischer Gerichtsbarkeit nicht entziehen können.

Eine einseitige Open-Source-Quote in der Beschaffung würde vielen leistungsfähigen mittelständischen Anbietern Europas und damit 80 Prozent der eigenen Digitalwirtschaft den Marktzugang versperren und damit der digitalen Souveränität sogar schaden. Stattdessen muss die Digitalwirtschaft in ihrer ganzen Breite mobilisiert werden. Dafür benötigen wir gute Bedingungen für alle heimischen Akteure – unabhängig vom Lizenzmodell.

Was es jetzt braucht: Souveränitätspolitik mit marktwirtschaftlichem Kompass

Damit ein digitales Wirtschaftswunder gelingen kann, braucht es eine strategisch aufgestellte Industrie- und Innovationspolitik für die Digitalwirtschaft:

Eine zentrale Stellschraube ist dabei die öffentliche IT-Beschaffung. Der Staat muss endlich zum aktiven Ankerkunden für souveräne Technologien werden. Hierfür würde die Einführung einer „Souveränitätsklausel“ dienen: Bei gleichwertiger Leistung sollen Anbieter mit europäischem geistigem Eigentum und lokaler Rechtsbindung bevorzugt berücksichtigt werden können – um strategische Abhängigkeiten zu verringern und europäische Wertschöpfung zu stärken.

Zugleich muss die vielbeschworene Technologie- bzw. Lizenzoffenheit endlich mit Leben gefüllt werden. Statt einseitiger Lizenzdogmen – etwa durch starre Open-Source-Quoten – braucht es funktionale Kriterien wie Interoperabilität durch offene Schnittstellen, Portierbarkeit und Auditierbarkeit, an denen sich die Eignung von Lösungen messen lässt.

Drittens braucht es innovationsfreundliche Rahmenbedingungen: Ein Belastungsmoratorium für kleine und mittelständische Digitalunternehmen ist überfällig, um gerade bei europäischen Vorhaben wie AI Act oder Cyber Resilience Act bestehende Überregulierung wieder abzubauen.

Schließlich muss der Zugang zu Wachstumskapital verbessert werden. Beteiligungs- und Risikokapital ist für wachstumsorientierte IT-Mittelständler nach wie vor schwer zugänglich. Nötig sind gezielte Mittelstandsfonds, öffentliche Co-Investments und bessere Rahmenbedingungen für Börsengänge, um das enorme Potenzial der mittelständischen Digitalwirtschaft auch finanziell zu heben.

Die Grundlagen für ein digitales Wirtschaftswunder sind da. Die Gelegenheit für eine vom Souveränitätsgedanken geleitete Digitalpolitik nie so groß wie jetzt. Nun kommt es darauf an, die vielversprechenden ersten Ankündigungen aus der neuen Bundesregierung in eine zielführende Agenda zu gießen.

Oliver Grün ist Präsident des Bundesverband IT-Mittelstand (Bitmi) und Präsident des Mittelstand-Europaverbandes European Digital SME Alliance. Grün ist Gründer der Grün Software Group in Aachen.

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