Seit über 80 Jahren gilt in Deutschland die Schulpflicht. Die Vokabel „Homeschooling“ haben in dieser Zeit die wenigsten von uns gelernt. Dafür gibt es jetzt seit rund drei Wochen den unfreiwilligen Crashkurs. Der „Unterricht daheim“ prägt die Realität in vielen Familien und führt zu Doppelbelastungen, die an Grenzen führen können. Genauso wie unser Schulsystem, dessen Stärke nicht zuletzt in der sorgfältigen Ausarbeitung von Unterrichtsplänen liegt. Planmäßig läuft derzeit wenig. Aktuell meistern Lehrkräfte die Situation eher mit Improvisation und Kreativität.
Viel Verwirrung und vielfältige Angebote
Engagierte Bildungsexperten, Lehrer, Eltern und Schüler suchen nach Auswegen, den Unterricht so gut es geht weiterzuführen und in Kontakt zu bleiben. Sie nehmen sich und ihre Schule in die Pflicht, dem Bildungsauftrag auch in diesen Krisenzeiten gerecht zu werden. Dieser Weg führt viele Bildungseinrichtungen in das „Neuland“ von digitalen Kollaborations- und Lernplattformen – oder was als solche bezeichnet wird.
Denn anders als für das erzwungene „Homeoffice“ vieler Eltern gilt: In den meisten Schulen gibt es schlicht keine erprobten Arbeits- und Meetingroutinen oder gar eine bestehende digitale Infrastruktur für Kommunikation, Zusammenarbeit, Video- oder Dokumentenaustausch. Trotz bekannter Pilotprojekte wie der Schul-Cloud des Hasso-Plattner-Instituts, Lösungen wie „mebis“ in Bayern oder „Logineo“ in NRW und einer ganzen Reihe weiterer privatwirtschaftlicher Angebote zeigen sich in der Coronakrise 2020 die Versäumnisse der Vergangenheit. Es gibt kein digitales Auffangnetz, keinen digitalen Notfallplan, keine Routinen für die Mehrheit der Schulen. Dafür aber reichlich Begriffswirrwarr, wo Chattools, Lernplattformen wie Moodle oder Kollaborationslösungen wie beispielsweise Teams in einen Topf geworfen werden. Lösungen, die sich sogar komplementär ergänzen können, wenn sie eingesetzt würden.
„Verantwortungsvoller Pragmatismus“ ist gefragt
In einer Zeit, in der Flexibilität Trumpf ist und Improvisationstalent zur wichtigsten Gabe wird, fangen die Menschen daher an, sich an ganz vielen Stellen neu zu organisieren – was natürlich auch auf Schüler und Lehrer zutrifft. Dabei greift nicht nur die Generation Z reflexartig zu den Services und Tools, die sie auf Smartphones und Tablets ohnehin schon verwenden. Auch ein eher pragmatischer Teil der Lehrkräfte denkt: Warum Aufgaben und Austausch nicht über die Apps regeln, die die Schüler bereits auf ihrem Smartphone haben. Gelernt ist schließlich gelernt. Doch das führt genauso reflexartig wie nachvollziehbar zu deutlicher Kritik bei Datenschützern. Denn manche der kostenlosen Lieblings-Apps haben doch einen Preis: Die Daten ihrer Nutzer und ihre Sicherheit.
Der Versuch eine Kontrolle über diesen digitalen Wildwuchs zu erlangen fällt allerdings in eine Zeit, in der wir in ganz vielen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens täglich existentielle Entscheidungen und Abwägungen treffen müssen. Da ist verantwortungsvoller Pragmatismus als Überlebenseinstellung gefragt.
Blankoscheck in Sachen Datenschutz darf es trotzdem nicht geben
Das Dilemma hat der in den USA ansässige Datenschutz-Aktivist Maciej Cegéowski kürzlich auf den Punkt gebracht. Mit Bezug auf die datenschutzrechtlichen Diskussionen über ein massenhaftes Handytracking zur Bekämpfung der Pandemie merkt er an, dass die Warnung vor den Gefahren heute so sei, als ob man sich Sorgen darüber mache, dass Schimmel im Keller wächst, wenn das Haus in Flammen steht.
Und trotzdem: Einen Blankoscheck in Sachen Datenschutz darf es auch in Krisenzeiten nicht geben. Allerdings lösen Verbote von Wildwuchs-Lösungen weder die aktuelle Bildungskrise noch den berechtigten Bedarf. Was jetzt zählt ist eine gemeinsame Kraftanstrengung aller Anbieter, die digitale Lösungen und Plattformen für den digitalen Unterricht bereitstellen können. Sie müssen ihre Ressourcen ausbauen und öffnen, sich dabei ausdrücklich zur Einhaltung von Datenschutz und IT-Sicherheit bekennen und dies auch durch entsprechende Zertifikate und Audits nachweisen können. Nicht erst seit der Einführung der Datenschutzgrundverordnung vor zwei Jahren sind viele Fortschritte und mehr Transparenz erreicht worden. So wichtig Hinweise auf einen vermeintlich nicht ausreichenden Datenschutz im Einzelfall bleiben – ein pauschales Ausbremsen, eine daraus resultierende Verunsicherung und Stillstand dürfen wir uns nicht länger leisten.
Gemeinsamer Kraftakt
Die Digitalisierung in den Schulen hat viel zu lange in den Computerräumen mit Nachsitzen verbracht. Die Corona-Krise macht nun verstärkt dezentrale Lösungen außerhalb der Bildungseinrichtungen und unter Verzicht auf den Klassenkontext als Präsenzveranstaltung nötig. Auch für die Zeit nach der Pandemie. Die Herausforderung besteht darin jetzt schnell und pragmatisch zu handeln und die Schulen und Lehrerinnen und Lehrer bestmöglich zu unterstützen. Das funktioniert – gerade durch learning by doing.
In Schulen mit wenig „digitalen Routinen“ haben sich längst Gruppen von Lehrkräften gebildet, die ihre Erfahrungen an andere weitergeben, sich austauschen – dazulernen. Der digitale Unterricht fällt aber nicht allen leicht. Nicht jeder verfügt über geeignete Hardware und einen Breitbandanschluss. Digitale Tools stellen für einige Schülerinnen und Schüler eine Hürde dar, da die virtuose Smartphone-Nutzung eben nicht einer produktiven Zusammenarbeit im Unterricht gleichkommt. Für die digitale Lernkurve der Schulen engagieren sich auch viele Unternehmen aus der sonst eher als „nerdig“ bekannten IT-Branche. So fördern über 200 Partnerunternehmen von Microsoft mit der Initiative „Teams macht Schule“ ehrenamtlich den technischen und organisatorischen digitalen Austausch in Zeiten des „Social Distancing“.
Was jetzt zählt ist, ein engagierter Pragmatismus auf Basis von Datenschutz und Sicherheit. VieleLehrer und Schüler aber auch Eltern werden ihre Erfahrungen in die Weiterentwicklung der digitalen Bildung einbringen können. Und Bildungspolitik wie Experten könnten mit den Erfahrungen aus diesem ungewollten Crashkurs im Nachgang wirklich ein erstes Curriculum entwickeln, in dem das Digitale kein Fremdkörper, sondern wichtiger Bestandteil ist – nicht nur in Krisenzeiten.
Sabine Bendiek ist seit 2016 Vorsitzende der Geschäftsführung von Microsoft Deutschland.