Europa hat sein neues Schreckgespenst gefunden: den amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA), den großen Plan zur Unterstützung der Energiewende. Wie ein betrogener Ehepartner, der nichts hat kommen sehen, schreit die EU auf, um ihre Frustration offen zu legen. Dass sie in flagranti erwischt wurde - Joe Bidens Programm beinhaltete bereits ein doppelt so großes „Build Back Better“-Programm. Ihre Frustration über die Komplexität und Ineffizienz ihres Green Deal im Vergleich zur Einfachheit des amerikanischen Plans. Und schließlich die beschämende Frustration darüber, dass nachdem Europa lange von den USA mehr zum Klimaschutz gefordert hatten, diese es nun mit voller Kraft und mit klaren Eigeninteressen in Gang setzen - während die Europäer ihre eigenen Interessen vergessen, wenn sie den roten Teppich für chinesische Batterien, Elektroautos und Solarpaneele ausrollen.
Defensive Industriepolitik und Überregulierung bringen keinen Erfolg
Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Mitte Januar habe ich mir die Rede der Kommissionspräsidentin zur europäischen Antwort aufmerksam angehört. Man sah eine kämpferische Präsidentin - deren Voluntarismus jedoch kaum die Bedürftigkeit und Unklarheit des vorgeschlagenen Plans verdecken kann. Europa wird niemals Erfolg haben, wenn es defensiv ist, überreguliert oder eine Industriepolitik betreibt, die aus dem 20. Jahrhundert übernommen wurde - was manchmal in Paris, Brüssel oder Berlin gepredigt wird. Die Welt hat sich verändert: Die Europäer brauchen eine umfassende technologische und wissenschaftliche Offensive und dürfen nicht als Mitläufer agieren.
Denn die Situation ist gravierend: der technologische Rückstand Europas wird immer größer, in den Bereichen Klima, Gesundheit und Digitalisierung. Nur in den letzten Wochen haben die Europäer vier Revolutionen verpasst, die sie hätten anführen sollen. ChatGPT revolutioniert die Künstliche Intelligenz und zeigt, dass kein BigTech unbesiegbar ist - nicht einmal Google und seine Suchmaschine. Die Kernfusion hat in Kalifornien einen historischen Durchbruch erlebt, während die Europäer die Fähigkeiten und die akute Not haben, die Energieversorgung zu revolutionieren. Der Weltraum wird ebenfalls zentral für unsere Sicherheit und Kommunikation, aber wir stecken wegen Ariane und Vega für die nächsten zwölf Monate am Boden. Und schließlich bremsen wir die Entwicklung der synthetischen Biologie - Hoffnung für eine Wirtschaft und eine Gesellschaft, die in Zukunft mehr auf Produktion statt auf Extraktion beruhen soll, und vielversprechend für Landwirtschaft, Gesundheit und Klima ist.
Wir müssen unsere Methoden ändern. Erstens müssen wir uns trauen, Klartext zu sprechen: Nein, wir sind nicht mehr führend und der Europäische Binnenmarkt ist in allen Zukunftsbereichen wie Cybersicherheit, Wasserstoff, KI oder Quanten ein Märchen.
Was haben die Forschungsmilliarden gebracht?
Zweitens muss man klar bewerten, was unternommen wurde: Wo sind die Ergebnisse des Next-Generation-EU-Plans, von dem nach fast drei Jahren erst 140 Milliarden von 750 Milliarden Euro investiert wurden? 230 Milliarden Euro wurden seit 1984 in die europäische Forschung investiert: Abgesehen von der niederländischen ASML, für welche technologischen Führungspositionen? Was haben die IPCEI, die Important Projects of Common European Interest, zu Batterien oder Wasserstoff erreicht, außer die großen Konzerne, die in Brüssel am besten vernetzt sind, nach dem Gießkannenprinzip zu besprühen? In acht Monaten hat die Welt einen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt: Was hätten wir in acht Monaten noch erreichen können, wenn wir uns auf Geschwindigkeit statt nur auf Geld, auf Wirkung und Spitzenleistungen statt auf Ankündigungen und Streuen der Ressourcen konzentriert hätten?
Und schließlich sollten wir aufhören, über Batterien oder die Cloud zu reden: Sprechen wir lieber über die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ziele, die wir zusammen erreichen wollen - bessere Energiespeicherung, Verringerung des CO2-Fußabdrucks, den Menschen in den Mittelpunkt der digitalen Revolution stellen, Leben retten. Und hören wir auf, um jeden Preis „schützen“ zu wollen - ein vergebliches Unterfangen, das nur Ängste schürt - und entwickeln wir stattdessen Lösungen, die allen unseren Mitbürgern zu einer besseren Zukunft verhelfen.
Die Zeit drängt: der Europäische Rat sollte am 9. Februar endlich die starke und klare europäische Antwort aufbauen, die wir brauchen. Wir sollten gemeinsam einige gezielte Projekte starten, die die Welt verändern können. Ein „Apollo 2.0“, das dem Streben nach europäischer Führung durch eine wirklich ehrgeizige Umsetzung Gestalt verleiht: nach dem Vorbild der Eureka-Programme der 1980er Jahre. Die Leistungsfähigkeit unserer Bildungssysteme erneuern und uns mithilfe von KI auf die Berufe von morgen vorbereiten, unsere Abhängigkeit von autoritären Ländern verringern, indem wir neue Materialien für unsere Industrie herstellen, die klimatischen Schlüsseltechnologien von morgen entwickeln, ein Zeitalter der Erzeugung und nicht der Extraction einleiten. Kühnheit, noch mehr Kühnheit, immer Kühnheit – so wird Europa wieder führend.
André Loesekrug-Pietri ist Vorsitzender der Joint European Disruptive Initiative (JEDI), der europäischen Initiative für Sprunginnovationen.