Im Schatten der vielen globalen Krisen hat sich in den vergangenen Jahren eine Entwicklung verfestigt, die langfristig für den Wohlstand Deutschlands und Europas der wohl wichtigste Einflussfaktor ist: die Bedeutung von technologischer Innovationskraft als Machtfaktor.
War in der geopolitischen Debatte Anfang der 2000er Jahre die technologische Sicht der Dinge nicht sonderlich relevant, hat sich dies deutlich geändert. Vor allem der Aufstieg Chinas zu einer der führenden Innovations- und Wirtschaftsmacht steht für die technologiegetriebene Neuvermessung wirtschaftlichen und politischen Einflusses von Staaten im 21. Jahrhundert.
Spätestens seit der amerikanische Präsident Donald Trump durch Strafzölle auf chinesische Importe dem Projekt „Made in China 2025“ Widerstand entgegen setzt, ist das wichtigste chinesische Zukunftsprojekt, die Technologieführerschaft in den wichtigsten Schlüsselindustrien zu übernehmen, in aller Munde. Das Projekt ist ebenso strategisch wie ambitioniert: Durch beispiellose Investitionen in der Digitalisierung und Vernetzung von industrieller Fertigung, dem Aufbau neuer Infrastrukturen wie 5G-Netze oder die Innovationsführerschaft bei neuen Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI) oder Quantenmechanik sollen nach dem Anspruch der chinesischen Führung die Grundlage dafür gelegt werden, Chinas wirtschaftlichen und politischen Einfluss weltweit bis 2050 abzusichern.
Durchsetzung technologischer Standards wird entscheidend
Das Kalkül der chinesischen Führung ist klar: Nur Staaten, die Schüsseltechnologien kontrollieren, nehmen wirtschaftlich, politisch, diplomatisch und militärisch in Zukunft eine Vormachtstellung ein. Es geht dabei vor allem um die Fähigkeit, diese Schlüsseltechnologien – allen voran Künstliche Intelligenz – weltweit anwendbar zu machen, um Standards und Normen durchzusetzen, die politische und wirtschaftliche Einflussnahme garantierten. Mit seinem Mega-Projekt der „Neuen Seidenstraße“ von Schanghai bis Duisburg zielt China genau darauf ab: Investitionen von schätzungsweise 900 Milliarden US-Dollar sollen nicht nur langfristig Wachstum sichern, sondern Chinas Einflusssphäre in Schlüsselindustrien und -technologien der Zukunft – von der Smart-City-Cloud bis hin zu intelligenten Energienetzen – gewährleisten.
Wir müssen über den „richtigen“ Staat sprechen
Mit beiden Initiativen – „Made in China 2025“ und der „Neue Seidenstraße“ – etabliert China ein System, das einerseits innovative Technologien als Wachstumstreiber hervorbringt und andererseits deren Anwendung und Durchsetzung weltweit zum Ziel hat.
Die diesem Ansatz zu Grunde liegende Idee, dass der Staat durch eine aktive Technologiepolitik politische und wirtschaftliche Macht ausübt, ist weder neu noch – wie oft behauptet – nur möglich in einem autoritären politischen System. Die USA, Israel oder Estland zeigen, dass sich funktionierende, strategische Innovationsregime durch ein Zusammenspiel aus einem aktiven Staat und einer offenen Innovationslandschaft in Forschung, Industrie und Gründerszene auszeichnen. Siri, die bekannte Sprachsteuerungssoftware von Apple, hätte es ohne bewusst offen angelegte Forschungsprograme der amerikanischen Regierung nicht gegeben. So geht die Software zurück auf das Projekt „CALO“, das 2003 durch die DARPA, eine Forschungsbehörde des amerikanischen Militärs, ausgeschrieben wurde, bevor Apple die Software 2010 aufkaufte. Nur eines von vielen Beispielen.
In der technologiepolitischen Debatte in Deutschland und Europa spielt die Diskussion über die Rolle des Staates noch immer eine untergeordnete Rolle. Dies kann sich langfristig als strategischer Fehler herausstellen. Denn längst geht es nicht mehr um die Frage „viel Staat versus weniger Staat“, „hohe Staatsaugaben gegen niedrige Staatsaugaben“, sondern um die Frage nach dem „richtigen“ Staat. Die Diskussion darüber, welche aktivierende, technologietreibende Rolle Staat und Verwaltung einnehmen müssen, ist zentral für die Beantwortung der Frage, ob Deutschland und Europa sich im technologischen Wettbewerb behaupten können oder nicht.
Technologische Innen- und -außenpolitik gemeinsam denken
Technologien können keine Institutionen erschaffen, die vorher nicht existent waren. Sie sind vielmehr darauf angewiesen, dass die bestehenden Institutionen die Bedingungen für ihre Anwendung und Verbreitung schaffen. Es muss darum gehen, große, vielleicht gerade für uns Deutsche verrückte, gleichwohl ambitionierte Ziele zu definieren, die bewusst offene Lösungsmöglichkeiten zulässt. Der richtige Staat formuliert große technologiepolitische Ziele, die er mit gesellschaftlichen Herausforderungen verknüpft. Warum setzen wir uns in Deutschland nicht das Ziel, das modernste Bildungs- und Weiterbildungssystem der Welt zu entwickeln – auf der Basis technologischer Möglichkeiten? Ein echter Exportschlager. Warum entwickeln wir nicht das beste Gesundheitssystem der Welt? Umwelt- und Klimaschutz, Mobilität, Energie – es gibt eine Vielzahl großer gesellschaftlicher Themen, die technologische Lösungen brauchen. Der Staat kann durch eine kluge Mischung aus Finanzierung, Regulierung und vor allem dem Anwendungswillen neuer Technologien bessere Voraussetzungen für Innovation schaffen, als jedes traditionelle Wirtschaftsförderungsprogramm. Der richtige Staat fördert und ermöglicht dabei innovative Ökosysteme, in dem Start-ups, traditionelle Industrie und Forschung alleine oder in Zusammenarbeit mit anderen Staaten aus aller Welt mit viel Geld an den großen Themen der Zeit arbeiten können und unterstützt die Anwendung und Skalierung der daraus entstandenen Lösungen – weltweit. Technologische Innen- und Außenpolitik lassen sich nicht mehr trennen.
Europa hat etwas anzubieten in dieser Welt
Zu diesem Zweck sind institutionelle Rahmenbedingungen nötig, über die die Europäische Union noch nicht verfügt. Es mag politisch verständlich sein, wenn in kaum einem Innovationspapier nach der „europäischen Lösung“ gerufen wird – von der Forschungspolitik bis hin zur Finanzierung länderübergreifender Forschungseinrichtungen. Die EU braucht allerdings starke Innovationstreiber auf der Ebene ihrer Mitgliedsländer, allen voran Deutschland und Frankreich. Nur sie haben die institutionellen Möglichkeiten, zusammen mit der europäischen Ebene regulativ die Anwendungsmöglichkeiten neuer Technologien zu gewährleisten. Das übergeordnete Ziel kann dabei kein geringeres sein als die Europäische Union zu einem einheitlichen, weltweit führenden Anwender neuer digitalen Technologien zu machen. Ohne die Mitgliedstaaten selbst wird dieses Ziel – vorerst – nicht zu erreichen sein.
Lars Zimmermann ist Managing Director von Public, einer Venture Development Firma für Government Technology (GovTech) mit Sitz in Berlin, London und Paris.Sein Text ist eine Antwort auf Anna
Christmann, Sprecherin für Innovations- und Technologiepolitik der
Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und Obfrau in der Enquete-Kommission
Künstliche Intelligenz. Sie argumentierte am Freitag in ihrem Standpunkt, dass Deutschland sich vor allem europäisch engagieren solle.