Als der Bundesrat in seiner vergangenen Sitzung darauf verzichtete, den Vermittlungsausschuss in Sachen Jugendschutzgesetz (JuSchG) anzurufen, hat man wahrscheinlich das Aufatmen aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in der Glinkastraße bis zum Bundesratsgebäude am Leipziger Platz gehört. Nun steht dem Inkrafttreten des neuen Regelwerks zum 01. Mai 2021 nichts mehr im Wege und die erste größere Modernisierung des JuSchG seit 2002 nimmt ihren Lauf.
Dem Kraftakt der Reform gingen Jahre der Vorbereitung, viele heiß geführte Debatten mit Dutzenden beteiligter Stakeholdergruppen und ein bis zwei Zerwürfnisse zwischen Bund und Ländern voraus. In der finalen Stellungnahme des Bundesrates liest sich das natürlich diplomatisch (Bundesrats-Drucksache 195/21): „Um das gemeinsame Ziel eines konvergenten und kohärenten Regelungssystems zu erreichen, ist eine besondere Abstimmung und Kooperation zwischen Bund und Ländern erforderlich. Die mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) vorgenommenen Anpassungen werden diesem Anspruch nicht gerecht (…).“ Begeisterung für eine längst überfällige Modernisierung des Jugendmedienschutzrechts klingt anders.
Ein neuer Medienbegriff
Dabei will das JuSchG alles richtig machen: Es führt einen konvergenten Medienbegriff ein und gilt nun für alle Träger- und Telemedien. Ist das der Befreiungsschlag für den deutschen Jugendmedienschutz, der regulatorisch zerrissen ist zwischen dem Jugendschutzgesetz des Bundes und dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag der Länder? Leider nein, denn der Bereich des Rundfunks bleibt – aus guten Gründen – außen vor und weiter in der Hand der Länder. Sowieso soll das JuSchG nach eigener Aussage den bestehenden Rechtsrahmen der Länder ergänzen, nicht ersetzen. Dem Ziel, irgendwann einen konvergenten gesetzlichen Jugendmedienschutz in Deutschland zu haben, kommt das Gesetz also nicht näher.
Allerdings führt der neue Rechtsrahmen etwas ein, was die Wissenschaft bereits seit zehn Jahren anmahnt: Er erweitert die gesetzlichen Schutzziele um Kommunikations- und Interaktionsrisiken – ein kleiner Paradigmenwechsel. Bislang geht es im Jugendschutz nämlich vor allem um das Einziehen von Hürden für Kinder und Jugendliche, wenn es um das Inkontaktkommen mit beeinträchtigenden Mediendarstellungen geht. Dass die Mehrheit der Heranwachsenden einen Großteil ihrer Zeit nicht mit der Rezeption statischer Medieninhalte verbringt, sondern chattet und postet und liked und disst und hatet und sich und andere live streamt, das ist bislang an dem bestehenden Regelungsrahmen vorbeigegangen.
Altersbewertungen auch für „Risiken persönlicher Integrität“
Auftritt JuSchG 2021. Durch die Erweiterung der Schutzziele sollen bei Altersbewertungen nun nicht mehr nur die vorab bekannten Inhalte in ein Alterskennzeichen fließen, sondern auch die Risiken für die „persönliche Integrität“. Dieser Begriff ist eine legislative Neuschöpfung, die aber anschlussfähig an bisherige Konstruktionen im verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung sein kann. Die Konkretisierung liegt nun zunächst bei den Selbstkontrolleinrichtungen wie der USK und der FSK und ihren Sparringspartnern, den Obersten Landesjugendbehörden. Inwieweit die Ausweitung der zu berücksichtigenden Risiken in der Praxis dazu führt, dass jedes Smartphone-Spiel mit unmoderierter Chat-Funktion nun automatisch eine „ab 16“-Kennzeichnung erhält, wird sich zeigen. (Spoiler: eher nicht.)
Eine weitere Neuerung wird längerfristig die Struktur des bestehenden Jugendschutzsystems verändern: Das JuSchG sieht für Plattformen mit nutzergenerierten Inhalten eine Pflicht zur Einziehung von Vorsorgemaßnahmen vor. Vergleichbar ist die Pflicht mit der erst im Herbst in Kraft getretenen Vorschrift des § 5a im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag der Länder, bei dem Ähnliches für Video-Sharing-Angebote gilt. Der § 5a JMStV ist nun hinfällig, denn Bundesrecht bricht Landesrecht, so dass sich das neue JuSchG entgegen seiner eigenen expliziten Aussage in Teilen doch vor die Länderregeln schiebt.
Das neue JuSchG wird zunächst Unruhe stiften
Stein größeren Anstoßes ist dabei, dass das JuSchG auch gleich die Aufsicht und den Vollzug mitregelt, was die Einhaltung der Vorsorgepflichten angeht: Das übernimmt nämlich ab Mai die neue Bundezentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz – das ist die deutlich vergrößerte, mit neuen Aufgaben, Personal und Kompetenzen versehene bisherige Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, die dann von der Geschäftsstelle in Berlin aus über die Einhaltung der Vorsorgepflichten wacht. Die Gesetzesbegründung umfährt die sich dabei aufdrängende Grundfrage nach dem Grundsatz der Staatsferne der Medienaufsicht mit Hinweis darauf, dass es sich dabei nicht um eine inhaltliche Medienaufsicht handele, sondern um die Kontrolle der Einhaltung „systemisch-struktureller Verpflichtungen“.
Auch an anderen Stellen wird das JuSchG zu Anpassungen bei den bestehenden Akteuren führen. Neue Verfahren – etwa für die Alterskennzeichnung sämtlicher Inhalte auf „Film- und Spielplattformen“ –, neue Übergabepunkte zwischen der KJM, jugendschutz.net und der Bundeszentrale, aber auch neue Vereinbarungen von Selbstkontrollen und den Obersten Landesjugendbehörden werden viele praktische Diskussionspunkte aufwerfen. Auch die Frage, wie die privaten Anbieter auf die neuen Anforderungen reagieren, wird noch mit Spannung zu verfolgen sein. Fakt ist, dass das JuSchG zunächst Unruhe stiften wird. Jetzt kommt der Twist: In einem Regulierungsfeld, das zwingend auf Diskurs, auf Auseinandersetzung und Aushandlung angewiesen ist, weil hier nämlich verhandelt wird, wie Kinder und Jugendliche in den neuen Medienumgebungen aufwachsen, darf es auch mal unruhig zugehen. Jeder Reformimpuls kann hier helfen, das Gesamtsystem in Richtung Zeitgemäßheit zu drücken. Das mag anstrengend klingen, ist aber wichtig.
Beim jetzigen Stand stehenzubleiben wird indes nicht reichen. Das sieht auch die Länderkammer so: „Der Bundesrat betont den weiterhin bestehenden Bedarf nach einer zeitgemäßen und umfassenden Novellierung des Jugendmedienschutzes in Deutschland, die den Herausforderungen gerecht wird, die sich aus dem gewandelten Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen ergeben (...).“ Nach der Reform ist vor der Reform, das gilt auch für den gesetzlichen Jugendmedienschutz.
Stephan Dreyer ist Senior Researcher am Leibniz-Institut für Medienforschung, Hans-Bredow-Institut (HBI) in Hamburg.