Der im April 2022 von der Rundfunkkommission der Länder vorgelegte Diskussionsentwurf zur Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV-E) ließ die gesamte Branche aufhorchen und einige mit Unverständnis zurück. Offenbar haben die kritischen Argumente und Warnungen vor einer fehlenden Umsetzbarkeit der vorgelegten Pläne, die bereits im Vorfeld von zahlreichen Akteuren aus Wissenschaft, Praxis und Regulierung vorgetragen wurden, keine Früchte getragen.
Problematische Regeln ohne Durchsetzungskraft
Die aktuell große Vielfalt an Lösungen für den technischen Jugendmedienschutz soll nach den Vorstellungen der Länder künftig einer sogenannten Jugendschutzvorrichtung weichen – einer One-Button-Lösung, mit der Jugendschutz pauschal auf jedem Gerät aktiviert und deaktiviert werden kann. Die Länder schlagen damit eine umfangreiche Neuausrichtung des Systems des (technischen) Jugendmedienschutzes für Onlineangebote vor. Diese würde massive und nachteilige Auswirkungen für Anbieter von Inhalten, Plattformen und Geräte haben – aus Sicht der Länder jedoch die Zugänglichkeit von Jugendschutzsystemen verbessern.
Inhalteanbieter müssten ihre etablierten und international anerkannten Jugendschutzmaßnahmen (zum Beispiel PIN-geschützte Profile bei Video-on-Demand-Diensten) durch eine schlichtere, weniger flexible deutsche Insellösung ersetzen. Gerätehersteller und Anbieter von Betriebssystemen müssten zudem grundsätzlich offene Schnittstellen bereithalten, die gegenüber beliebigen Apps ohne weitere Hürden Auskunft über das Alter der Nutzerin oder des Nutzers geben. Das Missbrauchspotenzial einer solchen Vorschrift muss uns Sorgen bereiten. Ein weiteres Problem: Unabhängig von ihrer Jugendschutzrelevanz dürfen Apps nur dort angeboten werden, wo es eine zertifizierte Jugendschutzvorrichtung gibt. Gibt es die also auf dem jeweiligen Gerät oder im Appstore nicht, scheiden diese als Vertriebsweg aus.
War es bisher Konsens, dass primär diejenigen für ausreichende Schutzmaßnahmen zu sorgen haben, die jugendschutzrechtlich relevante Inhalt bereithalten, so würden nun, nach den Plänen der Länder, erstmals auch zahlreiche Gerätehersteller und Entwickler von Betriebssystemen zu Jugendschutzmaßnahmen verpflichtet werden. Da jedoch kaum ein potenziell betroffenes Unternehmen seinen Sitz in Deutschland hat, ist die Durchsetzung der neuen Pflichten ohnehin schwierig. Und handeln nicht alle relevanten Anbieter von Betriebssystemen für Computer, mobile Endgeräte, Fernseher, Set-top-Boxen etc. gleichermaßen schnell und einheitlich, bleibt das Schutzkonzept insgesamt wirkungslos.
Selbstregulierung als fester Bestandteil des Jugendmedienschutzes
Bisher bietet das Prinzip der regulierten Selbstregulierung Anbietern und Unternehmen die Flexibilität, bei der Entwicklung neuer Angebote den Schutz der Nutzer:innen in einen angemessenen Ausgleich mit innovativen Ideen und eigenen Interessen zu bringen.
Insbesondere die dienstspezifischen Schutzfeatures können in besonderem Maße flexibel individuelle Gegebenheiten berücksichtigen – so etwa das Mediennutzungsverhalten, die Bedürfnisse von Eltern und ihren Kindern und Jugendlichen im Altersverlauf sowie unterschiedliche Medienerfahrungen und -kompetenzen. Gleichzeitig können Anbieter schnell und flexibel auf gesellschaftliche Entwicklungen und Debatten reagieren und sind damit langwierigen Gesetzgebungsprozessen oftmals einen Schritt voraus.
Der Gesetzentwurf will nun das Gegenteil: Er nimmt Eltern und Erziehenden die individuellen und altersdifferenzierten Optionen, die ihnen heute zur Verfügung stehen. Mit ihnen regeln sie derzeit den Zugang ihrer Kinder zu digitalen Medien. Die vorgeschlagene One-Button-Lösung gleicht eher einer starren Schwarz-Weiß-Lösung. Ja, Jugendschutz und Medienerziehung zu Hause kann herausfordernd sein. Und ja, bisher müssen Eltern je nach Anwendung und Gerät gegebenenfalls einzelne Einstellungen vornehmen. Aber hilft hier tatsächlich eine zentrale Jugendschutzvorrichtung?
Nein. Denn damit werden Eltern und Heranwachsende sowie die Verschiedenartigkeit der Lebenssituationen in den Familien und die verschiedenen Nutzungsrealitäten schlicht unterschätzt und ausgeblendet. Sie sind individuell und mitunter komplex – und damit zwangsläufig auch der technische Jugendmedienschutz. Wir können und müssen Eltern daher mit individuell passenden und bedürfnisorientierten Informationen und Angeboten bei dieser herausfordernden Aufgabe unter die Arme greifen. Und das noch besser als heute.
Auf Vorhandenem aufbauen oder Neuland betreten?
Dabei brauchen wir nicht nur passgenaue Antworten auf traditionelle Risikodimensionen, sondern müssen im Idealfall flexibel und agil, fast schon visionär, auch künftige Risiken antizipieren. Eine empirische Grundlage sollte hier ein entscheidendes Element sein, um bestehende Defizite zu ermitteln und angemessene, ausgewogene und tatsächlich notwendige Schutzmechanismen zu identifizieren. Erst dann ist der Gesetzgeber gefragt, auf die gewonnenen Erkenntnisse zu reagieren, wenn er das für geboten hält.
Der Entwurf der Länder allerdings lässt eine sachliche, empirisch belegte Begründung der geplanten Maßnahmen vermissen. Es ist nicht erkennbar, in welchen Nutzungsszenarien künftig ein höheres Jugendschutzniveau bestehen würde als bisher. Um eine so grundlegende Neugestaltung zu rechtfertigen, die mit zahlreichen Grundrechtseingriffen einherginge, wäre dies jedoch dringend notwendig.
Flexibilität statt starrer Konzepte beim Jugendmedienschutz
In einer sich immer schneller verändernden Welt ist es wichtig und richtig, auch im Jugendmedienschutz nicht an starren Konzepten festzuhalten, sondern stets neue Möglichkeiten zu ergründen und im Bedarfsfall die regulatorischen Voraussetzungen zu verändern. So können neue Risiken unmittelbar adressiert werden und Regulierer sowie Anbieter flexibel auf neue Herausforderungen reagieren.
Im Fall des JMStV-E ist das politische Ziel zwar erkennbar. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind jedoch weder technisch umsetzbar, noch sind sie in ihrer Eingriffsintensität angemessen. Am problematischsten ist, dass sie Eltern nicht dabei helfen, den Schutz ihrer Kinder zu verbessern. Wir sollten stattdessen empirisch prüfen, was Familien heute und morgen wirklich brauchen. Auf dieser Grundlage können dann die vor zwei Jahren begonnenen Gespräche auf fachlicher Ebene unter Einbeziehung der Kommission für Jugendmedienschutz, der Landesmedienanstalten und der Selbstkontrolleinrichtungen fortgesetzt werden.
Martin Drechsler ist seit 2016 Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM). Als Jurist ist er bereits seit 2008 bei der FSM für rechtliche und technische Fragen des Jugendmedienschutzes zuständig. Außerdem ist er Vorstandsmitglied von „Deutschland sicher im Netz“ (DsiN).