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Digitalisierung & KI

Standpunkte KI „made in Germany“: Kluft zwischen Anspruch und Realität

Philip Hutchinson, Experte für Use Cases & Applications beim Applied AI Institute
Philip Hutchinson, Experte für Use Cases & Applications beim Applied AI Institute Foto: Applied AI Institute for Europe

Eigentlich hat Deutschland mit seinen vielen Start-ups das Potenzial, bei Künstlicher Intelligenz zum Vorreiter zu werden, ist Philip Hutchinson vom Applied AI Institute überzeugt. Doch um dieses zu nutzen, brauche es rasch große Investitionen und einen geeigneten regulatorischen Rahmen für das KI-Ökosystem.

von Philip Hutchinson

veröffentlicht am 11.08.2023

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Noch vor wenigen Jahren diskutierten Expertinnen und Experten auf internationalen Fachkonferenzen, in welchem Ausmaß Künstliche Intelligenz unser aller Leben möglicherweise verändern könnte. Spätestens seit Beginn dieses Jahres ist klar: Das Ausmaß ist gigantisch und wird sich über nahezu sämtliche Lebensbereiche erstrecken – ob wir wollen oder nicht. Hierdurch entstehen enorme Wertschöpfungspotenziale, welche sich diversen Schätzungen zufolge global betrachtet auf mehrere Billionen Euro pro Jahr belaufen. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass das Rennen um die globale KI-Vorherrschaft bereits in vollem Gange ist.

Doch ein Blick auf den Status quo zeigt: Deutschland droht nur ein sehr kleines Stück von diesem gigantischen neuen „KI-Kuchen“ abzubekommen. Von den nach Marktkapitalisierung zehn größten Unternehmen der Welt sind acht im Bereich KI aktiv – und kein einziges davon stammt aus Deutschland (oder Europa). Bereits heute ist zu beobachten, dass deutsche Unternehmen für ihre KI-Aktivitäten vorzugsweise auf externe Dienstleister setzen und ihre KI-Infrastruktur in die Cloud auslagern – welche typischerweise von US-amerikanischen Unternehmen bereitgestellt wird. Dadurch entsteht nicht nur ein zunehmender Anteil der Wertschöpfung im Ausland, sondern es ergeben sich auch erhebliche wirtschaftliche und geopolitische Abhängigkeiten.

Große Investitionen sind gefragt

Derzeit sprießen überall auf der Welt zahlreiche KI-Start-ups aus dem Boden, welche einen Teil des KI-Kuchens erobern möchten. Eine jüngst vom Applied AI Institute for Europe publizierte Analyse der deutschen KI-Start-up-Landschaft 2023 zeigt, dass Deutschland mit 508 KI-Start-ups (im Vergleich zu 2022 ein Wachstum von eindrucksvollen 67 Prozent) rein quantitativ sehr gut aufgestellt ist und somit eine vielversprechende Ausgangslage aufweist. Um diese Unternehmen international wettbewerbsfähig zu machen und sie für deutsche Unternehmen als realistische Alternative insbesondere zu US-amerikanischen KI-Unternehmen zu positionieren, bedarf es nun jedoch vor allem zügig signifikanter Investitionen. Die 508 analysierten KI-Start-ups haben im Zeitraum von 2013 bis 2023 nur circa 3,5 Milliarden US-Dollar an Finanzierung einsammeln können. Zum Vergleich: Allein im Juni 2023 haben in den USA ansässige KI-Start-ups weit über eine Milliarde Dollar eingeworben.

Im internationalen Vergleich verfügt Deutschland über eine starke KI-Forschung. Wie in anderen Forschungsbereichen wird das generierte Wissen jedoch auch im KI-Sektor zunehmend im Ausland kommerzialisiert. Die eigentliche Wertschöpfung findet somit außerhalb Europas statt. Der Hauptgrund hierfür ist, dass es in Deutschland am großen Geld mangelt, welches KI-Start-ups speziell zur Gewinnung von KI-Talenten sowie für die zum Training großer Modelle erforderliche Rechenleistung benötigen.

Höhere Investitionen übersetzen sich naturgemäß nicht eins zu eins in höhere Erfolgschancen, doch die Wahrscheinlichkeit für ein neues KI-Einhorn „made in Germany“ steigt natürlich dennoch signifikant. Auch andere Staaten innerhalb Europas haben dies erkannt und sind Deutschland bereits einen Schritt voraus: Beispielsweise investieren Frankreich 500 Millionen Euro und die Niederlande rund 200 Millionen Euro in die KI-Förderung. Großbritannien investiert allein in die Entwicklung von großen Sprachmodellen 100 Millionen Pfund.

Deutschland könnte Vorreiter werden

Noch könnte Deutschland KI-Vorreiter werden oder zumindest nicht den internationalen Anschluss zu verlieren. Die Bundesregierung muss hierfür jedoch deutlich aktiver werden und die KI-Förderung ab sofort mit höchster Priorität behandeln. Hierzu bedarf es nicht nur umfangreicher direkter Förderung von KI-Start-ups, sondern auch den Aufbau eines deutschlandweiten Ökosystems mit Fokus auf vertrauenswürdiger KI.

Denn während eine Regulierung von KI wie beispielsweise in Form des derzeitigen Entwurfs des AI Acts häufig kritisiert wird, so bietet sie für Start-ups – sinnvoll umgesetzt und durch nationale Kompetenzzentren begleitet – enorme Möglichkeiten zur Differenzierung von KI-Anwendungen aus China oder den USA im Einklang mit europäischen Werten und Idealen.

Es liegt nun somit in den Händen der Politik, zügig die finanziellen und regulatorischen Rahmenbedingungen für ein KI-Ökosystem zu setzen, in welchem Deutschlands zahlreiche KI-Start-ups zu international wettbewerbsfähigen Akteuren wachsen und gedeihen können. Denn noch ist die Möglichkeit gegeben, dass Deutschland die Zukunft von (vertrauenswürdiger) KI aktiv mitgestalten und von den enormen Wertschöpfungspotenzialen profitieren kann. Das Zeitfenster hierfür verkleinert sich jedoch mit jedem zusätzlich verstreichenden Tag.

Philip Hutchinson ist KI-Analyst für Use Cases & Application sowie Strategy & Assets beim Applied AI Institute for Europe mit Sitz in München, die sich für den vertrauensvollen KI-Einsatz in der Industrie einsetzt.

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