In den vergangenen Jahrzehnten wurden das Bild von Staat und Verwaltung in Deutschland maßgeblich vom Grundsatz der Subsidiarität des Staates geprägt: Der Staat reagiert mit regulierender Rahmensetzung, Gesetzesvollzug und Kontrolle auf neue Entwicklungen.
Trotz mancher Verwerfungen schien es lange Zeit keine wesentliche Alternative zu geben. Die großen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen schienen vor allem durch internationale Entwicklungen von außen, private Unternehmen und Akteure angestoßen zu werden. Dem Staat kam die Rolle zu, diese Entwicklungen zu erkennen und durch die Rahmengesetzgebung sowie steuerliche Anreize in eine für die Gemeinschaft förderliche Richtung zu steuern. Staatliches Handeln in diesem Sinn ist sehr oft reaktiv und flankierend, aber es bietet nicht von sich aus Lösungen an, es stößt keine neuen Entwicklungen an.
Staatliches Handeln ohne Gestaltungskraft
Die aktuellen Krisen und internationale Einflüsse scheinen jedoch ein Umdenken einzuleiten: Es gibt ein immer stärker wachsendes Unbehagen, das auch schon während der Regierung Merkel artikuliert wurde, weil staatliches Handeln in Deutschland den jeweils aktuellen Entwicklungen hinterherzulaufen scheint und wenig eigene Gestaltungskraft offenbart.
Auch wenn 2021 viele Menschen vielleicht andere Erwartungen an die Ampelregierung hatten, das Jahr 2022 hat sie eines Besseren belehrt: Die Erwartungen an eine innovative Politik, etwa im Bereich des Klimaschutzes, wurden enttäuscht, da die Bundesregierung vor allem mit der Bewältigung der verschiedenen, sich überlagernden Krisen beschäftigt war und darüberhinaus die Regierungsparteien im Namen des Koalitionsfriedens untereinander Zugeständnisse machen mussten. Die Kritik wächst: Insbesondere die Klimakrise führt uns vor Augen, dass die Bürgerinnen und Bürger zu Recht mehr Innovations- und Gestaltungskraft von ihrer Regierung erwarten können.
Aber wie kann die Wende vom regulierenden zum proaktiven, gestaltenden Staat erreicht werden? Interessant und international anerkannt sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Mariana Mazzucato, Professorin am University College London: In ihrem Buch „Mission“ fordert sie, dass die Rolle des Staates sich nicht darauf beschränken dürfe, im Falle ihres Versagens reaktiv Märkte zu reparieren. Vielmehr müsse er die Märkte explizit mitgestalten, um die Resultate zu erbringen, die die Gesellschaft brauche.
Missionsorientierte Innovationspolitik: Agiles Politikhandeln
Es bedürfe eines neu belebten Sinns für den öffentlichen Zweck sowohl bei Staat und Wirtschaft als auch hinsichtlich der Art und Weise ihrer Zusammenarbeit. Dazu müsse sich der Staat von innen heraus ändern. Er müsse sich selbst verwandeln – in eine innovative Organisation mit der Kompetenz und den Fähigkeiten, die Wirtschaft zu beleben und zu mehr Zweckorientiertheit zu katalysieren. Mit bloßen Reparaturen vergeude er seine Kapazität als aktive und wertschöpfende Kraft.
In der Forschungs- und Innovationspolitik zeigt sich schon seit ein paar Jahren ein solcher Trend zur „Missionsorientierten Innovationspolitik“. In ihrem Jahresgutachten 2021 hat die Expertenkommission „Forschung und Innovation“ der Bundesregierung eine neue Missionsorientierung und Agilität in der F&I-Politik gefordert. Dabei lenke der Staat Innovationsaktivitäten in gesellschaftlich verabredete Richtungen, die privatwirtschaftliche Akteure nicht von sich aus einschlagen. Um diesen Politikansatz umsetzen zu können, sei agiles Politikhandeln erforderlich.
Die Expertenkommission empfiehlt dazu unter anderem: Bei der Formulierung von Missionen solle die Bundesregierung eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Ressorts sowie eine aktive Einbeziehung von Akteursgruppen, Expertenrunden, Bürgerinnen und Bürgern sowie Ländern und Kommunen sicherstellen. Im Sinne einer positiven Fehlerkultur sollte „Politik lernen“ stärker implementiert werden, sodass bei der Umsetzung von Missionen Zielanpassungen, Nachjustieren der Organisation und Maßnahmen oder auch ein vollständiger Abbruch möglich seien und akzeptiert werden.
Im Policy-Brief der Expertenkommission 1/2021 wird diskutiert, ob missionsorientierte Aufgaben eher in sogenannte Agenturen ausgelagert werden sollen oder dieses Ziel eher durch eine umfassende Reform der Strukturen intra- und interministerieller Koordination und Abstimmung erreicht werden soll. Dort heißt es, neu zu schaffende Agenturen in Deutschland könnten sich an ausländischen Vorbildern orientieren und unter Berücksichtigung verwaltungswissenschaftlicher und organisationspsychologischer Erkenntnisse von Anfang an auf Agilität getrimmt werden.
Mehr ressortübergreifendes Handeln erforderlich
Die Alternative zur Auslagerung von Aufgaben in Agenturen sei die Reform der bestehenden Strukturen und Prozesse. Ziel einer solchen Reform müsse es sein, die intra- und interministerielle Koordination zu verbessern und die bestehende Ressortkonkurrenz zu überwinden. Die Stärkung der horizontalen Zusammenarbeit über Abteilungs- und Ressortgrenzen hinweg sei vor allem im Kontext der Missionsorientierung wichtig, da dieser anspruchsvolle Politikansatz deutlich mehr ressortübergreifende Handeln erfordere als bisherige Politikansätze.
Der Vorsitzende der Expertenkommission, Uwe Cantner, forderte in einem Vortrag in der Evangelischen Akademie Loccum im Juni 2020, auch der Staat müsse sich transformieren. Dabei stünden die bisherigen, in gewisser Weise bewährten Governance-Strukturen und Prozesse auf dem Prüfstand. Das Zauberwort sei Agilität, verstanden nicht nur als Schnelligkeit, sondern auch als Proaktivität, Flexibilität und Reflexivität.
Bei der Formulierung von Missionen werde gegenüber einer a priori Festlegung auf eine bestimmte Problemlösung auf eine offene Beschreibung von Missionen gesetzt. Auf diese Weise werde die Kreativität der Marktakteure mit der politischen Steuerung im Sinne gesellschaftlicher und intergenerationaler Interessen verknüpft. Die Aufgabe des Staates bestehe daher, wie Dirk Fornahl und Lennard Munzer in der Dokumentation der Loccumer Tagung weiter betonen, als aktiver Gestalter in einem kollektiven Lern- und Entdeckungsprozess.
BMWK-Gesetzespläne zu Reallaboren könnten Initialzündung sein
Man kann nur hoffen, dass 2023 insbesondere im Hinblick auf den Krieg gegen die Ukraine mit allen seinen Folgen für die Menschen dort und in anderen Teilen der Welt ein besseres Jahr wird. Die Erkenntnisse und Folgerungen, die auch wir daraus ziehen müssen, zeigen, dass viel Arbeit vor uns liegt. Sie kann nur mit dem Willen zur Gestaltung und dazu, neue, innovative Wege im Sinne einer missionsorientierten Innovationspolitik zu gehen, gelingen.
Es soll nicht verkannt werden, dass es dazu einer umfassenden Transformation der Strukturen und Abläufe staatlichen Handelns sowie der Kompetenzen und Einstellungen seiner Akteure bedürfte. Ein Einstieg des Staates könnte das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geplante Gesetz zu Reallaboren sein, ebenso wie das von demselben Ministerium angekündigte Transformationspaket zum Vergaberecht.
Hermann Hill lehrt und forscht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Am Montag und Dienstag spricht er auf der Tagung „Die Praxis des Regierens“ in Berlin.