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Standpunkte Neue Digitalpolitik? 100 Tage nichts passiert

Peter Ganten, Vorsitzender der Open Source Business Alliance
Peter Ganten, Vorsitzender der Open Source Business Alliance Foto: Univention

Die Krisen der vergangenen Jahre von Corona bis zum Krieg in der Ukraine haben die Relevanz von digitaler Souveränität gezeigt. Die Digitalpolitikpläne der Ampelregierung in ihrer Koalitionsvereinbarung waren vielversprechend, findet Peter Ganten, Vorsitzender der Open Source Business Alliance. Nach 100 Tagen der neuen Regierung fällt Gantens Urteil nun aber verheerend aus.

von Peter Ganten

veröffentlicht am 18.03.2022

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Die Lage ist ernst. Niemand zweifelt daran, dass digitale Prozesse zukünftig alle Lebensbereiche steuern: private Kommunikation, Bildung, Wirtschaft und Verwaltung. Und mit der Meinungsbildung eine zentrale Säule demokratischer Gesellschaften. Wer diese Prozesse kontrolliert und gestaltet, steuert das Leben – das bekommen wir im Ukraine-Krieg auf erschreckende Weise vorgeführt.

Unüberwindbare Abhängigkeiten, erdrückende Plattformeffekte und fehlende Infrastruktur haben in Deutschland zu mangelnder Reaktionsfähigkeit und -freiheit geführt – nicht nur in Krisensituationen. Wir haben das unter der Trump-Administration wie in der Corona-Krise und der über Nacht notwendigen Umstellung auf digitalen Unterricht bemerkt. Und wir merken es jetzt, wenn im russischen Angriffskrieg die Abschaltung von Internetdiensten zur Kriegsführung gehört. Die Abhängigkeit von allzeit verfügbarer IT ist noch einmal deutlich stärker geworden. Die neue Bundesregierung hat das erkannt und digitale Souveränität sowie den wichtigen Beitrag, den Open-Source-Software dabei spielt, in der Koalitionsvereinbarung deutlich herausgestellt.

Die neue Drei-Parteien-Bundesregierung hat sich in der Digitalpolitik also richtige und begrüßenswerte Ziele vorgenommen. Dazu gehören eine „Verstetigung“ des Digitalpakts für die Schulen, der Aufbau eines Zentrums für digitale Souveränität („ZenDis"), ein Open Source Repository für die öffentliche Verwaltung, die fortgesetzte Unterstützung und Förderung einer europäischen Cloud-Infrastruktur (Gaia-X) und die Suche nach einem Cloud-Konzept für die dringend erforderliche Modernisierung der staatlichen IT-Infrastruktur.

Gute Ziele, desaströser Zwischenstand

Doch in der Praxis hakt es gewaltig. Beispiel Zendis: Bund, Länder und Kommunen wollen damit eine Art Open Source Program Office für die öffentlichen Verwaltung einrichten und einen souveränen Verwaltungsarbeitsplatz als Alternative zu Microsoft-Angeboten oder die deutsche Verwaltungscloud-Strategie vorantreiben – aber sie hat noch nichts auf den Weg gebracht.

Und wenn im nächsten Bundeshaushalt für ZenDis und die entsprechenden Projekte tatsächlich null Euro vorgesehen sind, ist die Lage ziemlich desaströs, ja schlimmer als unter der alten Regierung: Denn die finanzielle Nicht-Ausstattung kommt praktisch einem Anhalten der Projekte gleich.

Im Hinblick auf die so genannte „Multi-Cloud-Strategie“ sind wichtige Fragen noch völlig offen, ein Beispiel ist die Interoperabilität von Cloud-Angeboten: Dafür muss der Zugriff auf Office- oder Kommunikationsdienste über offene Schnittstellen erfolgen. Wenn die in den Behörden genutzten Fachverfahren jedoch so gestaltet werden, dass sie nur noch mit den Schnittstellen beispielsweise einer „souveränen“ Microsoft-Cloud funktionieren, wäre die Abhängigkeit größer als vorher. Daher brauchen wir so schnell wie möglich standardisierte, für alle zugängliche Schnittstellen, die verbindlich für den Zugriff auf Cloud-Dienste genutzt werden müssen. Nur dann besteht die Möglichkeit, alternative Angebote zu nutzen oder später auf diese migrieren zu können.

Natürlich müssen die Alternativen selbst vorangetrieben werden, indem der Staat seine Einkaufsstärke nutzt und die Angebote nachfragt, die ihm Kontroll- und Gestaltungsfähigkeit geben – selbst, wenn einige Aspekte davon heute noch nicht am Markt verfügbar sind. Die Open-Source-Industrie wird liefern können, das hat sie in der Vergangenheit bereits bewiesen.

Digitale Bildung

In der Corona-Zeit haben wir die digitalen Defizite bei der Ausstattung der Schulen schonungslos vor Augen geführt bekommen. Hier galt es, teils jahrzehntelange Versäumnisse in kürzester Zeit nachzuholen. Dennoch geht es in der digitalen Bildung ebenfalls zu langsam voran, darauf hat Fredrik Harkort in seinem Standpunkt bereits am Dienstag treffend hingewiesen. Wir müssen uns nicht nur stärker um die Infrastruktur kümmern, sondern auch um die Inhalte: Wenn wir unabhängiger und innovativer sein wollen, müssen wir die Programmierfähigkeiten früh fördern. Und digitalmündige Bürger heranziehen.

Fazit

Sind wir zu fordernd, zu ungeduldig, wenn das beherrschende Thema erst Corona und nun der Krieg in der Ukraine ist? Ich denke nicht. Ja, der Krieg bedeutet eine Zäsur, eine Zeitenwende, er bindet massiv Ressourcen und fordert schnelles Handeln. Aber er ist zugleich ein Weckruf, der zu einer noch ernsthafteren Analyse von Strukturen und Abhängigkeiten, zu einer mutigen Neubewertung und zu raschem, entschlossenem und zielstrebigem Handeln führen muss, weit über die Sicherheits- und Energiepolitik hinaus. Dabei spielt die Digitalisierung und mit ihr die Digitale Souveränität eine zentrale Rolle, denn die Digitalisierung wird zum Schlüssel der Gestaltung des gesamten Lebens.

Einseitige Abhängigkeiten dürfen wir uns hier, genauso wenig wie beim Erdgas oder Erdöl, nicht mehr erlauben. Die Entscheidungen und Weichenstellungen dürfen wir deswegen nicht auf die lange Bank schieben. Drei oder vier Jahre Nachdenklichkeit können wir uns nicht leisten. Deswegen müssen die Maßnahmen schnell umgesetzt und mit entsprechenden Budgets versehen werden. Es gilt, um an einen Slogan aus den 70er Jahren zu erinnern, das moderne Deutschland (und Europa) zu bauen.

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