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Digitalisierung & KI

Standpunkte Schluss mit der Placebo-Digitalisierung!

Torben Klausa, Agora Digitale Transformation
Torben Klausa, Agora Digitale Transformation Foto: Marzena Skubatz

Warum scheitert die Digitalisierung in Deutschland? Schuld sind auch jene, die seit Jahren am meisten für sie werben. Denn sie lenken erfolgreich von den eigentlichen Problemen ab, meint Torben Klausa von der Agora Digitale Transformation.

von Torben Klausa

veröffentlicht am 03.01.2024

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Machen wir uns nichts vor, die Optimist:innen unter uns haben einen verdammt ernüchternden Jahreswechsel hinter sich. Das gilt nicht nur für große Themen wie Demokratie, Klima und Weltfrieden. Auch, wer nur den Glauben an eine erfolgreiche Digitalisierung in Deutschland noch nicht aufgeben möchte, muss Argumente für solchen Optimismus derzeit mit der Lupe suchen

Aber woran hapert es? An uns, den digitalen Pionier:innen, kann es doch nicht liegen! Haben wir in den vergangenen Jahren nicht unsere Entscheider:innen bis zur Arthrose bekniet? Haben wir nicht erfolgreich Digitalbudgets eingeworben, digitale Leuchtturmprojekte entzündet, sogar ein Digitalministerium (mit ein bisschen Verkehr) bekommen? Warum kriegen wir in Deutschland dennoch die Digitalisierung nicht auf die Kette?

Die eigene Rolle reflektieren

Die Antwort ist frustrierend, aber simpel: Im Übereifer haben wir als digitale Avantgarde so sehr für digitale Lösungen geworben, dass wir damit zum Teil des Problems geworden sind. Denn wir haben etwas geschaffen, das noch schlimmer ist als gar keine Digitalisierung: Placebo-Digitalisierung. 

Wir haben gepriesen, wie digitale Technologien dabei helfen können, das Gesundheitssystem effizienter, die Verwaltung bürgernäher und die Medien interaktiver zu machen. Und haben damit das Missverständnis erzeugt, Digitalisierung könne nötige Reformen in den verschiedenen Bereichen nicht nur begleiten, sondern Digitalisierung sei die nötige Reform

Unser stetes Werben hat bei den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung Hoffnung geweckt, Digitalisierung könne jene strukturellen Veränderungen ersetzen, zu denen sich die Entscheider:innen selbst nicht durchringen können. Denn auch wenn sich für uns der frustrierende Kampf für Digitalprojekte angefühlt hat wie eine Sisyphos-Aufgabe: Im Vergleich zu den strukturellen Reformen, vor denen Politik und Wirtschaft eigentlich stehen, erscheinen die digitalen Leuchttürme wie popelige Wunderkerzen: Tablets in Schulen ohne Bildungsreform. Elektronische Patientenakte ohne zeitgemäßes Gesundheitssystem. Verspätungsmeldungen per App ohne echte Visionen für die Bahn. 

Die eigentlichen Probleme (mit) angehen

Wir digitalen Vordenker:innen ahnten wohl längst, dass das nicht reichen würde. Placebo-Digitalisierung kann kein dysfunktionales System verbessern: Die Existenz der E-Akte macht die Verwaltung nicht automatisch effizienter. KI-Tools machen Unternehmen nicht innovativer. Instagram-Profile mit Hochglanzfotos machen Regierungsmitglieder nicht bürgernäher. Doch Digitalisierung ohne den großen Ruck, der durch Deutschland geht, erschien uns immer noch besser als gar keine. Und um die gesellschaftlichen Herausforderungen jenseits von Bits und Bytes kümmerten sich ja wohl andere. Hofften wir. Dieser Zweckoptimismus fällt nun nicht nur uns, sondern der ganzen Gesellschaft auf die Füße.

E-Akte, KI-Tools und Social-Media-Kommunikation sind keine sinnlosen Ressourcenschlucker. Aber ohne grundlegende systemische Veränderungen, so schwer sie auch scheinen, sind solche Digital-Placebos wie Candycrush auf dem Ministerhandy. Sie erscheinen zeitgemäß, geben ein produktives Gefühl und ändern an den bestehenden Problemen nichts. Und sie lassen die Öffentlichkeit zweifeln, ob die Entscheider:innen in unserer Demokratie – schlimmer noch – ob unsere Demokratie selbst dem Ernst der Lage eigentlich gewachsen ist. Denn wo Technologie in der Anwendung nicht halten kann, was man sich politisch von ihr verspricht, schwindet Vertrauen und entsteht Frust. Nicht nur Frust der Technologie gegenüber, sondern auch jenen Institutionen, die sie als vermeintliche Lösung präsentieren.

Aufwachen, die Hütte brennt (schon eine Weile)

Diese Gefahr von Placebo-Digitalisierung meint übrigens etwas anderes als das abgegriffene Bonmot „Wenn Sie einen Schei*prozess digitalisieren, dann haben Sie einen digitalen Schei*prozess“. Der Satz mag zwar ebenfalls zutreffen. Schlechte Prozesse werden durch ein vorangestelltes „E-„ nicht besser. Doch die Gefahr von Placebo-Digitalisierung liegt tiefer. Denn wo der Glauben herrscht, die Digitalisierung könne im Alleingang unsere Probleme lösen, wird jedes Digitalprojekt zur willkommenen Ausrede, die eigentlichen Wurzeln der Probleme nicht anzugehen. Diese aber wuchern zunehmend außer Kontrolle. 

Verkehrskollaps, alternde Gesellschaft, Klimakrise: Die Hütte brennt. Und wie im „This is fine“-Meme sitzen Entscheider:innen inmitten lodernder Flammen und erfreuen sich an ihren digitalen „Lösungen“ von Flugtaxis über Pflegeroboter bis zu Abwärmenutzung in Rechenzentren. Diese Untätigkeit in wirklich wichtigen Dingen haben wir als Digital-Avantgarde viel zu lange in Kauf genommen, wenn nicht gar befördert, sofern dabei für uns zumindest „irgendwas Digitales“ abgefallen ist. Aber auch wir müssen endlich aufhören, uns mit digitalen Leuchtturmprojekten zufriedenzugeben, während andere, zentralere Bereiche unseres Gemeinwesens in der Dunkelheit versinken. Wir haben unser Können lange genug für Placebo-Digitalisierung hergegeben.

Was also tun? Wir müssen die eigentliche Bedeutung unserer Digitalexpertise wiederentdecken: Nicht als Zweck für Veränderungen, sondern als Mittel, um wichtige wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Reformen zu unterstützen und zu gestalten. Wir dürfen nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand am Sinn mancher digitaler Initiativen zweifeln, sondern müssen klar Stellung beziehen, bei Entscheider:innen und gegebenenfalls öffentlich – auch, wenn das am Image der Digitalisierung als Wundermittel kratzt. Und wir müssen endlich aufhören, unseren Erfolg an der bloßen Existenz neuer Digitalprojekte zu messen, und uns stattdessen auf ihre Wirkung jenseits der Digital-Bubble konzentrieren: auf einen klar definierten gesellschaftlichen Nutzen, auf eine gesellschaftliche Veränderung zum Besseren.

Der Kampf gegen Placebo-Digitalisierung wird möglicherweise für einige Entscheider:innen sehr ernüchternd – insbesondere für jene, die lieber über schicke Digitalprojekte reden, als grundlegende Reformen ernsthaft anzugehen. Aber vielleicht sind dann zum nächsten Jahreswechsel wenigstens all jene in Sektlaune, die den Optimismus mit Blick auf die großen Themen noch nicht aufgegeben haben: Demokratie, Klima, Weltfrieden. Und vielleicht ja sogar: eine erfolgreiche Digitalisierung in Deutschland.

Torben Klausa leitet den Bereich Digitale Öffentlichkeit beim Think-Tank Agora Digitale Transformation. Als Journalist und Wissenschaftler hat er zuvor die Machtverteilung zwischen Staat und Tech-Konzernen untersucht, arbeitete im Bundestag und für den Digitalverband Bitkom.

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