Der Begriff Gemeinwohl hat Konjunktur. Die Digitalstrategie der Bundesregierung nennt Gemeinwohlförderung als Ziel und auch in der europäischen Datenregulierung wird sie immer wichtiger. Wie öffentliche Interessen realisiert und das Gemeinwohl gesteigert werden können, müssen demokratische Gesellschaften immer wieder aushandeln.
Wikimedia Deutschland hat acht Anforderungen entwickelt, an denen sich digitalpolitische Projekte messen lassen müssen, die langfristig dem Wohlergehen der Gemeinschaft dienen. Es braucht Transparenz und wirksame Beteiligung. Grundrechte müssen geschützt und Schäden für die Allgemeinheit verhindert werden. Digitalpolitik soll Ungleichheit mindern, ihre Ergebnisse müssen offen sein und gemeinschaftlich verwaltet und erneuert werden.
Gemeinwohl braucht Transparenz und Beteiligung
Damit digitalpolitisches Handeln dem Gemeinwohl dient, ist es wichtig, dass sich die betroffenen Gruppen einbringen können. Das bedeutet für Ministerien und Parteien auch solche gesellschaftlichen Guppen einzubinden, die Risiken oder Technikfolgen erfahren können. Das heißt, jenseits von Unternehmen und Unternehmensverbänden in gemeinnützigen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Verbänden Expertise und Perspektiven einzuholen. Dazu müssen Politikschaffende Transparenz gewähren und Möglichkeiten für wirksame Beteiligung schaffen – und das ist zugegebenermaßen aufwendig.
Es gibt Beispiele, bei denen die Beteiligung bisher gut funktioniert, wie in der Pilotphase des Sovereign Tech Funds, einem Förderprogramm für Open-Source-Infrastruktur, das zudem an weiteren Beteiligungsformaten feilt. Beim Mobility Data Space, einer Plattformfür Datenaustausch im Mobilitätssektor, lief die Beteiligung in derAnfangsphase weniger gut, da überwiegend Interessen aus der Automobilbrancheeingebunden waren. Das im späteren Verlauf zu korrigieren ist deutlich schwieriger, als es von Anfang an richtig zu machen.
Verwirklichungsmöglichkeiten für alle schaffen
Dass digitalpolitische Vorhaben negative Auswirkungen vermeiden sollten, versteht sich eigentlich von selbst. Doch immer wieder gefährden Ideen wie die sogenannte Chatkontrolle die Grundrechte. Regulierungsbestrebungen adressieren nur zögerlich die hohen sozialen Kosten von Plattformen wie die psychische Belastung für Inhaltemoderator*innen oder die Umweltbelastung durch den hohen Ressourcenverbrauch von kurzlebigen Geräten.
Gemeinwohlorientierung in der Digitalpolitik heißt aber vor allem, die Verwirklichungsmöglichkeiten von Menschen zu stärken. Offenheit kann dazu einen großen Beitrag liefern, zum Beispiel, wenn freie und offene Software für alle wiederverwendbar ist. Oder wenn offene, interoperable Plattformen Nutzende befähigen, den für sie passenden Anbieter zu finden und leicht zu wechseln. Die Verantwortlichen für digitalpolitische Vorhaben sollten sicherstellen, dass möglichst viele unterschiedliche Gruppen Zugang zu den Ergebnissen haben und dass auch diejenigen aus Plattformen, digitalen Diensten und KI-Anwendungen Nutzen ziehen, die im Moment benachteiligt sind.
Auch das Dateninstitut, ein digitales Leuchtturmprojekt der aktuellen Regierung, will das Gemeinwohl fördern. Voraussetzung dafür ist eine klare Vorstellung davon, wie Gemeinwohl zu realisieren ist: Projekte des Dateninstituts sollten alle Ergebnisse zur freien Verfügung stellen und Konflikte zwischen einer Vielzahl von Zielen zugunsten von aktuell unterrepräsentierten Interessen auflösen. Bei der Auswahl und Ausgestaltung von Anwendungsfällen, die das Dateninstitut durchführen wird, sollte ein wesentliches Kriterium sein, ob diese die Verwirklichungsmöglichkeiten der Vielen stärken – statt die Einzelinteressen weniger.
Kommerzialisierungstendenzen langfristig im Blick behalten
Eine besondere Herausforderung ist, wie Vorhaben langfristig das Gemeinwohl fördern können. Dazu müssen die Verantwortlichen das Spannungsverhältnis zwischen Markt- und Gemeinwohllogik antizipieren und sich die Frage stellen: Muss das digitalpolitische Projekt sich im nicht-gemeinwohlorientierten Wettbewerb behaupten? Wenn das so ist, bedarf es möglicherweise einer längerfristigen staatlichen Finanzierung. Um eine Kommerzialisierung zu verhindern, die üblicherweise auf Kosten von Offenheit und breitem Zugang geht. Die Organisationsform, finanzielle Unterstützung und das Wettbewerbsumfeld müssen so gestaltet werden, damit das Gemeinwohl langfristig im Zentrum steht.
Die Förderung von Gemeinwohl durch Digitalpolitik erfordert keine Abkehr vom Markt, denn auch im Markt bestehen Spielräume für Gemeinwohl. Doch wenn auch wirtschaftliche Interessen beteiligt sind, müssen die Verantwortlichen ebensolche Spielräume schaffen und dafür sorgen, dass Konflikte zwischen Gewinn und Gemeinwohl zugunsten von Gemeinwohl aufgelöst werden. Aktuell schlagen vermeintlich „harte“ wirtschaftliche oft die „weichen“ gesellschaftlichen Überlegungen, auf Kosten des Gemeinwohls. Erkennbar ist das daran, dass das Dateninstitut nicht nur – primär? – von gewinnorientierten Beteiligten aufgebaut werden. Der Sovereign Tech Fund sollte möglichst klare Kriterien entwickeln, um sicherzustellen, dass er Projekte fördert, die den größten gesellschaftlichen Nutzen stiften –insbesondere für aktuell benachteiligte Gruppen.
Das Gemeinwohlverständnis und die dafür relevanten Perspektiven entwickeln sich andauernd fort. Das bedeutet, dass eine wirksame Beteiligung ein fortlaufender Prozess sein sollte, der auf transparenten Ergebnissen aufbaut und eine Weiterentwicklung ermöglicht. Gemeinwohl in der Digitalpolitik zu verankern ist keine in sich abgeschlossene Aufgabe, sondern ein Lernprozess, in dem sich Politikschaffende für neue Überlegungen öffnen können und müssen. Das Potenzial könnte kaum größer sein.
Aline Blankertz ist Referentin Politik und Öffentlicher Sektor bei Wikimedia Deutschland. Die angewandte Ökonomin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit daten- und wettbewerbspolitischen Fragen, unter anderem als Leiterin des Projekts „Datenökonomie“ bei der Stiftung Neue Verantwortung und als wirtschaftswissenschaftliche Beraterin. Der Beitrag basiert auf einem Politikpapier von Wikimedia, das heute hier veröffentlicht wird.