Fertige Politikinitiativen oder Entwürfe für Gesetzesvorhaben finden wir in der Science-Fiction nicht. Was wir aber finden sind Geschichten, die in zukünftigen Welten mit neuen Technologien angesiedelt sind. Die neuen Technologien gehen Hand in Hand mit sozialen, politischen und kulturellen Arrangements, die unsere gegenwärtigen Ängste und Hoffnungen genauso abbilden wie vorstellbare negative und positive Zukunftsvisionen.
In George Orwells Klassiker „1984“ ermöglicht ein High-Tech-Überwachungsapparat ein totalitäres System, in „Star Trek“ hat der Replikator alle wirtschaftlichen Knappheitsprobleme gelöst und in eine postkapitalistische Gesellschaft geführt. Dabei vermittelt die Science-Fiction bestimmte Narrative in Bezug auf Technologien, die die Gegenwart mit einer denkbaren Zukunft verbinden. Bei George Orwell wäre das zum Beispiel, dass mehr technische Möglichkeit zu mehr staatlicher Kontrolle führt, bei Star Trek, dass man durch mehr technische Möglichkeit soziale Probleme lösen kann.
Direkt aus der Dystopie geklaut
Was erzählt die Science-Fiction nun über Digitalisierung und Daten? Hier möchte ich zwei Science-Fiction-Narrative nebeneinanderlegen: Cyberpunk und Solarpunk.
Cyberpunk ist das Science-Fiction Kultgenre seit den 1980ern. „Cyber“ steht dabei für alle denkbaren digitalen Technologien, von Künstlicher Intelligenz über virtuellen Welten bis zu Computer-Hirn-Schnittstellen; „Punk“ ist der Widerstand gegen das Establishment. Erkennungsmerkmale des Cyberpunk sind düstere Schauplätze, die oft in schäbigen Megacities angesiedelt sind. Gemeinwohlorientierte Politik wurde durch die wirtschaftlichen Interessen großer Tech-Konzerne ersetzt – eine direkte Antwort auf den Vormarsch des Neoliberalismus seit den 1970ern.
Die Menschen im Cyberpunk sind körperlich und geistig durch Technik optimiert, bewegen sich in digitalen Welten, und nutzen Technik, um gegen die übermächtigen Strukturen zu rebellieren oder sich das blanke Überleben zu sichern. Stilprägend wurde Cyberpunk vor allem durch Filme wie „Blade Runner“ (1982) oder William Gibsons Roman „Neuromancer“ (1984), später weiter popularisiert durch das „Ghost in the Shell“ und dem „Matrix“-Franchise, bis zu dem 2020 erschienenem Computerspiel „Cyberpunk 2077“.
Das Cyberpunk-Narrativ kann man als „High-tech, but low life” zusammenfassen. Bei aller fortschrittlicher Technik ist das Leben doch prekär und „abgefuckt“. Daten machen süchtig und abhängig, Zugänge sind kommerzialisiert und zentralisiert, Technologie wird eingesetzt, um andere zu unterdrücken. Den Menschen bleibt nichts anderes übrig, als das System zu hacken, ohne es ändern zu können.
Wie es besser geht
Am bewussten Gegenentwurf versucht sich Solarpunk. Der Name der jungen, erst etwa zehn Jahre alten Science-Fiction-basierten Bewegung setzt sich zusammen aus „Solar“, was für alle Formen der nachhaltigen Energiegewinnung steht, und wiederum aus „Punk“. Das bedeutet über den Cyberpunk hinausgehend jedoch nicht nur Widerstand und Kritik, sondern eine tatsächliche Umgestaltung der Strukturen. Solarpunk geht über reines literarisches oder filmisches Schaffen hinaus, sondern ist als Label für Wertvorstellungen einer nachhaltigen, gerechten und positiven Zukunft zu verstehen und schließt auch Mode, Kunst und Architektur mit ein.
Die hellen Technikzukünfte und einladenden städtischen Umgebungen basieren auf einem starken Sinn für Gemeinschaft und Zusammenarbeit. Das Solarpunk-Narrativ kann man als „Nicht oder, sondern auch“ zusammenfassen. Gemeint ist damit, dass wir technischen und sozialen Fortschritt brauchen, um gemeinsam ein neues Verständnis einer Mensch-Natur-Technik-Beziehung zu schaffen. So sind Systeme dezentralisiert, Zugänge interoperabel, Daten werden geteilt, und Technologie ermöglicht Befreiung und Befähigung.
Ein Beispiel ist die Kurzgeschichte „The city of coordinated leisure“ (2018) von Tech-Aktivist und Science-Fiction Autor Cory Doctorow. Darin beschreibt er eine zukünftige kalifornische Stadt, die von Hitzewellen geplagt wird, deren Ausmaß aber dank nachhaltiger Lösungen unter Kontrolle ist. Technik und Daten werden gemeinschaftlich und gemeinwohlorientiert koordiniert, so dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Tagesgestaltung nach ihren Bedürfnissen als Reaktion auf unvorhersehbare Klimaschwankungen und Ereignisse anpassen können.
Im Zentrum steht der Fünftklässler Arturo, der es sich in den Kopf gesetzt hat, in seiner Straße eine spontane „Blockparty“ zu veranstalten. Am Ende machen tatsächlich alle mit, auch die Erwachsenen, denn ihre „work-scheduling apps” haben ihnen den Nachmittag spontan freigeräumt, damit sie wegen einer Hitzewelle mitten am Arbeitstag in ihrer eigenen Straße zusammenkommen können. Apps zur Arbeitsplanung – Technologie an sich – scheinen den Menschen nicht weniger, sondern mehr Freiheit und Selbstbestimmung zu geben, gerade auch um eine Party zu feiern.
Der Organisationsentwickler und selbsternannte Utopist Lino Zeddies hat nicht nur eine Kurzgeschichte, sondern ein ganzes Buch verfasst, das vor Solarpunk-Ideen nur so strotzt: In der „Utopia 2048“ sind alle öffentlichen Daten transparent, um Korruption und Missbrauch zu vermeiden. Wissenschaftliche Veröffentlichungen sind über eine Datenbank frei zugänglich und entkommerzialisiert, die Landwirtschaft funktioniert nach abgestimmten Datenmodellen, welche Kultivierung wann und wie oft langfristig am besten für den Boden ist. Und natürlich kann man Dank sicherer digitaler Identität nicht nur alle Amtsgänge einfach erledigen, sondern auch ohne physischen Pass reisen. Auch hier darf die neue Welt Spaß machen.
Was wir uns davon abschauen können – und sollten
Was hat das jetzt mit Politik zu tun? Warum sollten wir uns mit solchen verschiedenen Narrativen als Entscheider:in, Forscher:in oder Bürger:in beschäftigen? Science-Fiction transferiert den Zeitgeist mittels neuer Technik in die Zukunft und ist so ein überdeutlicher Spiegel der Bedürfnisse und Sorgen der Gegenwart. Cyberpunk kritisiert drastisch kommerzialisierte Strukturen und sieht die einzige Möglichkeit zur Selbstbehauptung in Gegenkultur und Hacks. Im Solarpunk drückt sich offensichtlich der Wunsch aus, dystopische Strukturen nicht nur zu kritisieren, sondern mit Hilfe von Technik zum Positiven zu verändern.
Wir können nun solche Geschichten lesen, weiterverbreiten, in der Bildung einsetzen und kritisch diskutieren, um Raum für Inspiration zu geben. Geschichten und Narrative können konkret mobilisieren. Dabei sind Cyberpunk und Solarpunk keine realen ausschließlichen Zukunftsentwürfe, sondern Möglichkeitenräume, in die wir unsere Überzeugungen und unser Handeln einordnen können. Am Ende läuft es auf zwei Fragen hinaus: Welche Science-Fiction-Geschichte möchte ich erzählen? Und passen die politischen Maßnahmen zu meiner Geschichte?
Die promovierte Politikwissenschaftlerin Isabella Hermann schreibt, publiziert und moderiert zum Feld der Science-Fiction. Sie ist Mitglied im Vorstand der Stiftung Zukunft Berlin.