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Digitalisierung & KI

Standpunkte Was Verwaltung und Wissenschaft voneinander lernen können

Hartmut Schubert, amtierender CIO von Thüringen
Hartmut Schubert, amtierender CIO von Thüringen Foto: Delf Zeh

Verwaltung und Wissenschaft könnten sich hervorragend ergänzen. Die Synergiepotentiale seien offensichtlich: öffentlich und frei verfügbare Lösungen, anwendungsnahe Forschung und enormer Wissenstransfer. Wie eine solche Zusammenarbeit aussehen kann, schreibt Hartmut Schubert, CIO von Thüringen.

von Hartmut Schubert

veröffentlicht am 20.11.2024

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Die Politik fordert weniger Bürokratie. Die Verwaltung soll stattdessen effektiver, moderner, kundenfreundlicher, resilienter und agiler werden. Jedoch nimmt die Zahl der Gesetze und Verordnungen zu und die Regelungsintensität steigt. Die Politik schafft unter der Flagge der Deregulierung ein „Mehr“ an Regulierung. Gleichzeitig fehlt es an Mitteln und Personal, um diese Mehrarbeit zu stemmen.

Daher ist es dringend nötig, die Potenziale moderner Technologien auszuschöpfen, um die Herausforderungen souverän zu bewerkstelligen, die mit dem zunehmenden Mangel an Fachkräften und der damit verbundenen Aufgabenverdichtung einhergehen. Dazu braucht es neue Partner für die öffentliche Verwaltung und wir müssen uns für neue Wege öffnen. Als vielversprechend haben sich Kooperationsprojekte zwischen der Thüringer Landesverwaltung und wissenschaftlichen Institutionen herausgestellt.

Verwaltung starr, Wissenschaft frei?

Der öffentlichen Hand fällt es oft schwer, Innovationen zu erkennen und in die Verwaltungsarbeit einzubinden. Während Behördenmitarbeitende durchaus innovativ denken, verharrt die institutionalisierte Bürokratie im Prinzip „bekannt und bewährt“. Auf der Spur nebenan schreitet die Technologieentwicklung in Wissenschaft und Forschung exponentiell fort. Neben der Wirtschaft ist die Wissenschaft in unserer Gesellschaft dasjenige System, welches sich relativ frei und unabhängig neuen Technologien, Ländergrenzen und kontinentale Unterschiede überschreitend widmet.

Verwaltung und Wissenschaft haben jedoch einiges gemeinsam: Beide arbeiten regelbasiert und mit Blick auf ein öffentliches Entwicklungsinteresse. Beide sind öffentlich finanziert, unterliegen damit keinem vorrangigen Profitziel.

Gerade bei IT-Technologien zeigt sich, dass die Wissenschaft den offenen Austausch anstrebt, wie er auch bei Open-Source-Software inhärent ist. Und die Verwaltung sucht, angesichts zunehmender Lock-in-Effekte, haushaltsrechtlicher Vorgaben und beschränkter Projektergebnisse durch den Einsatz proprietärer Produkte zunehmend in Open-Source-Lösungen alternative Handlungswege.

Verwaltung kann von einer stärkeren Zusammenarbeit mit der Wissenschaft profitieren: Wissenschaftler bringen eine systematische und methodische Herangehensweise mit, die auf empirischen Daten und fundierten Analysen basiert. Dies ermöglicht es, Entscheidungen neben politischen Erwägungen und gesellschaftlichen Interessen, stärker auf soliden, wissenschaftlich belegten Grundlagen zu treffen – besonders bei der Auswahl der Technologien für die Modernisierung der Verwaltung.

Für die Wissenschaft wiederum ergeben sich neue, praxisnahe Forschungsfelder, etwa in der KI-gestützten Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, aber auch in der Entwicklung von Methoden und Werkzeugen, die im Rahmen einer Art Digitalcheck Gesetze zukunftssicher machen. Projektmitarbeitende der Forschungseinrichtungen lernen zudem die Verwaltung kennen und vielleicht auch lieben, im besten Fall als künftige Fachkräfte innerhalb der öffentlichen Verwaltung.

So sieht die Kooperation in der Praxis aus

In Thüringen arbeitet das Finanzministerium seit drei Jahren erfolgreich mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der dort geleiteten Arbeitsgruppe offenes Design digitaler Verwaltungsarchitekturen zusammen. In drei Kooperationsprojekten werden Elemente der vollständigen Digitalisierung von Verwaltungsverfahren erprobt. Dabei sollen auf der einen Seite die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen bei Antragstellung und Abwicklung und auf der anderen Seite die Verwaltung bei der Digitalisierung komplizierter rechtlicher Regelungen unterstützt werden.

Als Pilotentwicklung ist die KI-gestützte Ende-zu-Ende-Digitalisierung am Beispiel des Bürgergelds mit dem Jobcenter der Stadt Jena entstanden. Die Ergebnisse wurden auf dem ersten wissenschaftlichen Kolloquium des Govtech-Campus in Berlin sowie auf dem Open-DVA-Kongress in Dornburg vorgestellt. Aus Gesetzestexten können nun auf Grundlage der Forschungsergebnisse mittels Rulemapping und KI-basierter Werkzeuge einfacher konkrete Umsetzungsprozesse abgeleitet und visualisiert werden. Den KI-basierten Werkzeugen liegen unterschiedliche Modelle zu Grunde, die sich gerade in einem wissenschaftlichen Testverfahren befinden. Alle Modelle werden anhand von deutschen Gesetzestexten auf der Grundlage von zehn verschiedenen Kategorien trainiert.

Bestandteil der gegenwärtigen Kooperationsprojekte ist auch, die Nutzerfreundlichkeit der entwickelten Werkzeuge zu evaluieren. Mithilfe dieser Werkzeuge können komplizierte Genehmigungsprozesse und Verwaltungsverfahren schnell und (teil)automatisiert digitalisiert werden. Damit könnten Planungs- und Genehmigungsverfahren zukünftig signifikant beschleunigt werden. Im Fall von Rechtsanpassungen im Fach- oder Verwaltungsrecht helfen die entwickelten Methoden, bereits digital abgebildete Verwaltungsverfahren schnell und flexibel anzupassen. Die in den Forschungsprojekten entwickelten Grundlagen können für die auf Landes- und Bundesebene avisierten „Digitalchecks“ nachgenutzt werden, um etwa die Komplexität einer beabsichtigten rechtlichen Regelung frühzeitig abzubilden und grafisch visualisierte Regelungsalternativen zu entwerfen.

Die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten des Kooperationsprojektes mit der Universität Jena mündeten darin, dass Teile des Bürgergeldes mittels auf Open Source basierenden No-Code-Low-Code-Plattformen inklusive der Bescheiderstellung komplett automatisiert wurden (derzeit im Probebetrieb). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird eine Methode erprobt, wie komplexes Fachwissen und Zusammenhänge maschinell beschrieben werden können. Dazu werden verschiedene Datenquellen ausgewertet und in einem veröffentlichten, prozessbasierten, rechtskonformen Wissensgrafen zusammengeführt.

Zur Nutzung des Wissens kann ein hierfür entwickelter Werkzeugkoffer genutzt werden. Wissensgrafen unterstützen unter anderem die Transparenz und Nachvollziehbarkeit von maschinellen Entscheidungen. Ein solcher Wissensgraf kann dafür genutzt werden, Start-ups der Tech-Szene künftig in die Lage zu versetzen, passgenaue, schlanke IT-Lösungen innerhalb kürzester Zeit für die öffentliche Verwaltung zu entwickeln, da die hierfür obligatorisch zu implementierenden technischen Standards sowie generischen Referenzprozesse aus dem Verfahrensrecht auf Knopfdruck aus dem Wissensgraf abrufbar sind. Die Start-ups können sich somit auf das konzentrieren, was sie auszeichnet, nämlich passgenaue IT-Lösungen zu bauen, da die fachlichen und technischen Anforderungen an die jeweilige IT-Lösung aus dem Wissensgraf abrufbar sind.

Synergieeffekte nutzen

Die digitale Transformation ist ein komplexer Prozess, der technisches Wissen, organisatorische Veränderungen und sozioökonomische Auswirkungen umfasst. Wissenschaftler können helfen, diese Komplexität zu verstehen und zu bewältigen, indem sie interdisziplinäre Ansätze und Modelle zur Analyse und Lösung von Problemen bereitstellen. Daher sollen solche vielversprechenden und ertragreichen Kooperationen zwischen Wissenschaft und Verwaltung in Thüringen ausgebaut und als sinnvolle Ergänzung zu Kooperationen mit der IT-Wirtschaft etabliert werden.

Die Synergieeffekte der Kooperationsprojekte mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena sind unübersehbar und leisten einen wichtigen Beitrag für die zügige Verwirklichung der digitalpolitischen Ziele und Maßnahmen von Bund und Ländern. Der Freistaat Thüringen beabsichtigt, die aufgebauten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden in einem Govtech-Campus-Satelliten zu verstetigen. Der Govtech-Campus Thüringen soll in Erfurt ab Dezember seine Arbeit aufnehmen. Für die institutionelle Einbettung des Govtech Campus Thüringen in das Govtech-Ökosystem wurde im November zwischen dem Govtech Campus Deutschland, dem Freistaat Thüringen, der Digitalagentur Thüringen und der Govtech Platforms ein „Letter of Intent“ unterschrieben. Der Govtech-Campus Thüringen wird sich inhaltlich auf die Werkzeug- und Methodenentwicklung zur Prüfung der Digitaltauglichkeit von Gesetzestexten und die Entwicklung digitaler Verwaltungsarchitekturen fokussieren und auf die Ergebnisse der oben genannten Kooperationsprojekte aufbauen.

Hartmut Schubert (SPD) ist seit Dezember 2014 Staatssekretär im Thüringer Finanzministerium. Seit 2015 ist er Landes-CIO und vertritt Thüringen im IT-Planungsrat.

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