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Digitalisierung & KI

Standpunkte Wer anonymisiert, muss haften

Stefan Herwig, Leiter der Agentur Mindbase
Stefan Herwig, Leiter der Agentur Mindbase Foto: Mindbase

Bei Youtube, Facebook und Co. bekommen auch anonyme Nutzer eine digitale Bühne – haften müssen die Plattformen für sie nicht. Das solle sich ändern, fordert Stefan Herwig. Die Verantwortung für Inhalte dürfe endlich nicht mehr im Graubereich zwischen Nutzer und Plattform changieren.

von Stefan Herwig

veröffentlicht am 05.02.2020

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Auf der Agenda der noch jungen EU-Kommission scheint ein Digitalprojekt bereits gesetzt: Die Überarbeitung der Plattformhaftung sogenannter Hostprovider oder Intermediäre in der E-Commerce-Richtlinie. Das zentrale Problem liegt hierbei in der Frage der Haftungsverantwortung der Plattformen für die Inhalte ihrer Nutzer, dem „User Generated Content“. Sind die Plattformen für diese Inhalte verantwortlich? Oder können sie sich – wie bisher – auf eine neutrale Mittler-Rolle berufen? Akteure aus dem Pressebereich fordern, die Plattformen nach Logik des Presserechts direkt für schädliche Inhalte ihrer Nutzer haften zu lassen. Dies jedoch dürfte massenhaft veröffentlichten Inhalten wie dem schnellen Facebook-Kommentar oder dem spontanen YouTube-Urlaubsvideo wohl den Todesstoß versetzen und die Freiheit der Kommunikation auf den Plattformen erheblich einschränken. Wie lösen wir also die Misere mit nutzergenerierten Inhalten?

Logiklücke bei der Plattformhaftung

In der E-Commerce Richtlinie klafft eine Logiklücke, die Ursache für einen erheblichen Teil der Haftungsprobleme ist, und die mit einer klugen Überarbeitung der genannten europäischen Regelung – die nun „Digitale-Services-Richtline“ heißen soll – sinnvoll geschlossen werden kann. Diese Lücke ermöglicht Privatunternehmen, Nutzern ein Podium zu bieten, von dem aus sie anonym Inhalte in den öffentlichen Raum unserer Gesellschaft senden. Gleichzeitig bietet die E-Commerce-Richtlinie eine weitgehende Haftungsprivilegierung der Hostprovider, die erst dann eine Mitverantwortung für problematische Inhalte von den Plattformen fordert, wenn diese explizit Kenntnis davon erhalten haben. Man wollte ja nicht, dass Facebook, YouTube und Co. ihre Nutzer dauerhaft überwachen – im Hinblick auf die Datennutzungspraktiken der großen Portale und sozialen Netzwerke ein reichlich obsoletes Prinzip.

Das Zusammenfallen der durch die Plattformen vermittelten Anonymität von Nutzern auf großen Social-Media-Seiten mit der weitgehenden Haftungsfreistellung ihrer Betreiber führt dazu, dass strafrechtliche Ermittlungen von Rechtsverletzungen häufig nicht einmal mehr aufgenommen werden, im Sand verlaufen, oder nur unverhältnismäßig schwer aufgeklärt werden können. Zivilrechtliche Interventionen von Geschädigten drohen ebenso langwierig wie teuer zu werden. Die traditionelle E-Commerce-Richtline lässt so die Verantwortung für Inhalte meist im Graubereich zwischen Nutzer und Plattform diffundieren; den Dritten – oder die Gesamtgesellschaft – hinterlässt sie als geschädigt, desinformiert, beleidigt oder eingeschüchtert.

Anonymität nur ohne Haftungsfreiheit

Durch den immensen politischen Druck der letzten Jahre begannen die Plattformen, ihre Algorithmen zu überarbeiten. Facebook hat nach einer viel zu lange dauernden Verweigerungshaltung 2018 ernsthaft begonnen, seine Plattform auf gesellschaftliches Schadenspotential abzuklopfen, und auch YouTube änderte seine Empfehlungsalgorithmen, die bis 2019 dem Nutzer laut wissenschaftlicher Studien immer radikalere Inhalte servierten. Auf der aktuellen Münchener DLD-Konferenz zeigte sich Facebook-Sprecher Nick Clegg offen für weitergehende politische Regulierungen.

Um eine dauerhafte Lösung zu erreichen, kann die Kombination der Anonymität der postenden Nutzer mit der Haftungsfreistellung der Plattformen keinen Bestand haben. Genau die wird aber in der E-Commerce-Richtlinie immer noch praktiziert. Im Prinzip ist somit der gesamte Bereich der Social-Media-Kommunikation im Netz wie ein Straßenverkehr ohne Kennzeichen. Ohne greifbaren Verantwortlichen kann man Verstöße zwar theoretisch aufklären, aber die Aufklärung ist deutlich aufwendiger als der Verstoß, und die Masse der Verstöße überlastet das System.

Pseudonyme statt Klarnamenpflicht

Heißt das im Umkehrschluss, dass wir die von Wolfgang Schäuble unlängst geforderte Klarnamenpflicht im Netz doch brauchen? Nein, denn zunächst besteht die Möglichkeit, pseudonym auf Plattformen zu posten, das heißt die Plattform, oder – noch besser – eine dritte Stelle wie ein Single-Sign-in-Anbieter kennt die Identität des Postenden, aber die Öffentlichkeit kennt sie nicht. Bei pseudonymen Nutzern muss die Plattform im Falle einer Rechtsverletzung vermitteln und gegebenenfalls die Nutzeridentität nach einer Plausibilitätsprüfung dem Geschädigten gegenüber enthüllen, ansonsten haftet sie selbst.

Kann oder will sie das  sie das nicht, dann haftet die Plattform für anonyme Postings selbst. Das entspräche einer Haftung analog zum Presserecht – aber eben nur für anonyme Postings. So entsteht die Skizze einer neuen digitalen Haftungslogik für das Internet, die auf mehreren Ebenen die alte Haftungslogik ersetzen könnte: Verschafft eine Plattform – oder ein Rechenzentrumsbetreiber, der ja auch Hostprovider ist – seinem Kunden beziehungsweise Nutzer Anonymität, so kann er selbst für rechtsverletzende Inhalte haftbar gemacht werden. Er kann sich somit bei von ihm anonymisierten und verfügbar gemachten Inhalten nicht mehr hinter der Haftungsfreistellung der alten E-Commerce-Richtlinie verstecken.

Mehr Selbstkontrolle von Nutzern und Plattformen

Eine solche Lösung schafft gleichzeitig eine effizientere Selbstkontrolle bei Nutzern und Plattformen. Vielleicht noch wichtiger: Gerade große Plattformen müssen sich über den Einzelfall hinaus Gedanken machen, wie sie Hass und Hetze auf ihren Plattformen aktiv entgegenwirken, denn jeder Vermittlungsfall erzeugt Aufwand.

Im Schatten eines dysfunktionalen Haftungssystems konnten die Plattformen viel zu lang die von ihnen mitverursachten Probleme externalisieren und überproportional wachsen. Spätestens in dieser Legislaturperiode sollte mit dieser unfreiwilligen Subventionierung Schluss sein. Die Plattformen brauchen endlich eine Haftungsregelung, die ihrer Größe angemessen ist.

Stefan Herwig ist Leiter des netzpolitischen Thinktanks und der Beratungsagentur Mindbase, die versucht sich den Themen wie Plattformhaftung, Datenschutz und Internet Governance wissenschaftlich interdisziplinär anzunähern.

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