Digitalisierung-KI icon

Digitalisierung & KI

Standpunkte Wie die Gesetzgebung innovativer werden kann

Anna Sinell, Leiterin des Digitalchecks beim Digitalservice des Bundes
Anna Sinell, Leiterin des Digitalchecks beim Digitalservice des Bundes Foto: Digitalservice GmbH des Bundes

Der Gesetzgebungsprozess muss als Innovationsprozess verstanden werden, fordert Anna Sinell. Ihr gesamtes Berufsleben widmet sie der Frage, wie Ideen nicht nur Theorie bleiben, sondern tatsächlich in der Gesellschaft wirken können. Als Projektleiterin beim Digitalservice des Bundes arbeitet sie an einer praxisnahen, digital umsetzbaren Gesetzgebung.

von Anna Sinell

veröffentlicht am 22.01.2025

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Wie entstehen Innovationen? Diese Frage begleitet mich seit den ersten Tagen meines Berufslebens – in der Forschung bei der Fraunhofer-Gesellschaft, in der Digitalwirtschaft bei Google und heute beim Digitalservice in der Bundesverwaltung. Dort arbeite ich aktuell an einem der spannendsten, aber auch besonders herausfordernden und speziellen Innovationsprozess für unsere Gesellschaft: der Gesetzgebung.

Für mich zeigt sich: Während in Forschung und Wirtschaft agile Methoden und nutzerzentrierte Ansätze längst Standard sind, wirkt der Erarbeitungsprozess von Gesetzen oft wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Die Folge: Gute politische Ideen, die echte Veränderungen in der Gesellschaft anstreben, scheitern an der praktischen Umsetzung.

Veraltete Prozesse, ungenutzte Potenziale

Deutschland – Land der Ingenieurskunst und Vize-Weltmeister der Patente (nur die USA liegen vor uns) – hat es versäumt, seinen Gesetzgebungsprozess zu modernisieren. Die Bedürfnisse derjenigen, die ein Gesetz später umsetzen oder davon betroffen sind, werden häufig zu spät oder gar nicht berücksichtigt. Als Grund wird oft der knappe Zeitrahmen für die Ausarbeitung von Gesetzen genannt.

Aber auch die Angst vor sogenannter „Durchstecherei“ – dem vorzeitigen Einblick von politischen Konkurrenten und Interessengruppen in Gesetzesentwürfe – spielt eine Rolle. Genau dieses frühzeitige Einbinden würde jedoch massive Verbesserungen bringen. Der Austausch mit der Praxis und Betroffenen hilft, die Realität und die Problemlage zu berücksichtigen. Daher sollte eine Auseinandersetzung in den Ministerien bereits vor einem ersten Entwurf passieren und nicht erst dann, wenn die Inhalte definiert sind.

Hinzu kommt das berühmte Ressortdenken. Auch hier spielt das gegenseitige Misstrauen eine Rolle. Ministerien arbeiten isoliert voneinander, starre Hierarchien erschweren die Kooperation über Fachgrenzen hinweg. Daraus resultieren Regelungen, die häufig unnötig kompliziert sind und einen hohen Aufwand verursachen.

In der Konsequenz bedeutet das: Politische Vorhaben scheitern oft an der Umsetzung oder kommen gar nicht erst zustande. Die Debatte um die Kindergrundsicherung wurde zum Symbol wachsender Bürokratie, statt effektiv Kinderarmut zu bekämpfen. Die Steuererklärung auf einem Bierdeckel bleibt ein Mythos. Und das Klimageld, das schnell und unbürokratisch ausgezahlt werden sollte, verzögert sich durch technische Hürden. Die Folge: wachsender Frust in Wirtschaft und Bevölkerung über einen ineffizienten Staat.

Gesetzgebung als Innovationsprozess begreifen

Wenn Deutschland wettbewerbsfähig und zukunftsfähig bleiben will, müssen wir die Art und Weise, wie Gesetze entstehen, grundlegend überdenken. Dabei können wir wertvolle Erkenntnisse aus der Digitalwirtschaft übernehmen – nicht im Sinne der Eigeninteressen von Tech-Milliardären, sondern daraus, wie innovative Produkte entwickelt werden: durch iterative Prozesse, Nutzerzentrierung und interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Um das zu erreichen, sind aus meiner Erfahrung drei Ansatzpunkte entscheidend:

1. Interdisziplinäre Teams: Aktuell entwickeln vor allem Juristen mithilfe von Checklisten und Arbeitshilfen Gesetze. Doch komplexe Fragestellungen lassen sich am besten in interdisziplinären Teams bearbeiten. Neben juristischem Know-how brauchen wir Expertise aus Design, Data Science und immer häufiger auch Produktentwicklung und IT. Nur so können wir den aktuellen Herausforderungen gerecht werden und passende Lösungen erarbeiten.

2. Frühzeitige Einbindung von Betroffenen: Gesetze entfalten ihre volle Wirkung, wenn sie gemeinsam mit denjenigen entwickelt werden, die sie später umsetzen oder von ihnen betroffen sind. Ministerien sollten daher Unternehmen, Behörden und Bürger frühzeitig einbeziehen, um die Anforderungen an die Umsetzung genau zu erfassen. Hierbei kann die Verwaltung auf Methoden aus dem Service- und User-Centered Design zurückgreifen, die den Fokus auf die Gestaltung nutzerorientierter Dienstleistungen und die Bedürfnisse der Endnutzer legen.

3. Innovationsfreundliche Strukturen: Innovative Gesetzgebung erfordert geeignete Rahmenbedingungen. Eine Arbeits- und Führungskultur, die Mut belohnt und neue Ansätze unterstützt, ist daher entscheidend. Gleichzeitig müssen Mitarbeitende die Möglichkeit erhalten, neue Methoden zu erlernen und anzuwenden. Hier sind vor allem Führungskräfte in der Verwaltung gefordert, die neue Wege ermöglichen und aktiv fördern.

Das schafft die Grundlage für eine innovative Rechtsetzung. Entscheidend ist dabei: Der Erfolg eines Gesetzes ist nicht mit seiner Verabschiedung erreicht, sondern erst, wenn es Wirkung zeigt.

Kurzfristige Unterstützung zentral bereitstellen

Inmitten von Fachkräftemangel, Wirtschaftskrise und lähmender Bürokratie ist eines klar: Neben langfristigen Strategien wie dem Aufbau von Kompetenzen braucht es auch schnelle Erfolge. Eine zentrale, interdisziplinäre „Gesetzgebungs-Taskforce”, auf die alle Bundesministerien für Unterstützung bei Regulierungsvorhaben zurückgreifen können, wäre hier eine sinnvolle Antwort. Besonders bei Themen mit hoher politischer Priorität und in Krisensituationen könnten interdisziplinäre Teams kurzfristig Ministerien unterstützen und ihre Umsetzungskompetenz einbringen. Länder wie die Niederlande und Großbritannien haben mit ähnlichen Ansätzen bereits Erfolge gefeiert.

In Deutschland sollte eine solche Einheit in der kommenden Legislaturperiode dort angesiedelt werden, wo Digitalthemen und Verwaltungsmodernisierung gebündelt sind. So lassen sich Hindernisse schneller überwinden und eine moderne, effiziente Verwaltung aufbauen.

Gesetzgebung ist der Innovationsprozess unserer Demokratie

Seit 2023 arbeiten wir im Digitalservice des Bundes gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium an der Entwicklung des Digitalcheck – einer methodischen Prozessbegleitung für eine Gesetzgebung, die digital und praktisch gut umsetzbar ist. Dabei erlebe ich immer häufiger, wie Menschen in der Verwaltung mit Mut und Offenheit interdisziplinär zusammenarbeiten und frühzeitig den Dialog mit betroffenen Gruppen suchen. Diese Herangehensweise führt zu guten Beispielen und zeigt, dass viele Menschen in der Verwaltung ihre Aufgaben gerne offen und ergebnisorientiert angehen. Das darf aber nicht die Ausnahme bleiben, sondern muss die Regel werden.

Unsere Gesetzgebung sollte nicht als bürokratischer Prozess, sondern als Innovationsprozess verstanden werden – ein Prozess, der mit modernen Methoden und flexibler Arbeitsweise politische Ideen in die Praxis überführt und so unsere Demokratie erneuert und zukunftsfähig macht.

Anna Sinell beschäftigt sich seit ihrem Studium mit der Frage, wie sich Innovationen erfolgreich vorantreiben lassen. Heute bringt sie ihre Expertise in die Gesetzgebung ein: Als Leiterin des Digitalcheck beim Digitalservice des Bundes entwickelt sie Werkzeuge, die Verwaltungsmitarbeitende dabei unterstützen, digitaltaugliche und praxistaugliche Regelungen zu gestalten.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen