In Estland und Österreich erhalten Bürgerinnen und Bürger nach der Geburt ihres Kindes einen Link. Mit einem Klick darauf bestätigen sie, dass ihre bei der Verwaltung hinterlegten Daten inklusive Kontoverbindung korrekt sind. Nach der Bestätigung erhalten die frisch gebackenen Eltern automatisch das Elterngeld ausgezahlt, dass ihnen gesetzlich zusteht. Komplizierte Anträge sind hier schon längst passé. Das ist ein Beispiel dafür, wie proaktive Verwaltung in unseren EU-Nachbarländern bereits seit mehreren Jahren funktionieren kann.
Diese Art der proaktiven Verwaltung schafft Vertrauen und entspricht den heutigen Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen. Denn im privaten Umfeld sind sie einen solchen Service bereits gewohnt – zum Beispiel beim Online-Shopping oder beim Kundendienst, bei dem vorhandene Daten bereits hinterlegt sind.
Warum bekomme ich also keine automatische Erinnerung per E-Mail mit einem Link zum Terminbuchungstool, wenn mein Personalausweis abläuft? Wieso kann ich die Schulanmeldung für mein Kind nicht 24/7 online erledigen und warum nutzt die Verwaltung nicht die Daten, die dort bereits von mir und meinem Kind hinterlegt sind? Natürlich lässt sich dadurch nicht die Schuleingangsuntersuchung oder die persönliche Vorstellung des Kindes ersetzen. Aber ich könnte es mir ersparen, mit Personalausweisen, Kopie der Geburtsurkunde und ausgefüllten Papierformularen vor dem Schulbüro Schlange zu stehen, das nur von 8-13 Uhr in der Schulzeit besetzt ist.
Priorisieren und Verbündete gewinnen
In Hamburg haben wir uns auf den Weg gemacht und gehen erste Schritte in Richtung einer proaktiven Verwaltung. Dafür haben wir zunächst die Voraussetzungen für eine proaktive Verwaltung analysiert, ein interdisziplinäres Team zusammengestellt, gemeinsam potenzielle proaktive Services identifiziert und grobe Umsetzungsskizzen erstellt.
Insgesamt wurden 1800 Verwaltungsleistungen betrachtet, um Leistungen zu identifizieren, die sich für eine proaktive Umsetzung eignen. Zu den entscheidenden Kriterien zählten unter anderem die Leistungsart, der Auslöser für die Leistungserbringung, die Identifikation anspruchsberechtigter Personen und die Erreichbarkeit der Zielgruppe. Somit konnten wir auswählen, welche Leistungen sich prinzipiell für Proaktivität eignen könnten: Rund 300 Leistungen in der Hamburger Verwaltung bringen nach unserer Einschätzung dieses Potenzial mit.
Schon unsere ersten Erfahrungen haben gezeigt, dass wir einen strukturierten Ansatz brauchen, um alle Mitwirkenden mitzunehmen und zu koordinieren. Die ressortübergreifende Zusammenarbeit spielt eine entscheidende Rolle. Wir müssen genau verstehen, wie unsere Abteilungen arbeiten, welche Systeme wie miteinander zusammenhängen, wo Daten liegen und welche juristischen Aspekte es gibt, um proaktive Leistungen wirklich in die Umsetzung zu bringen. Beispielsweise erwiesen sich gezielte Interviews mit den Leistungsverantwortlichen auf Fachebene als wertvoll, um konkrete Einblicke zu gewinnen und die Bereitschaft für eine mögliche Umsetzung zu sichern.
Was braucht es?
Grundsätzlich haben wir in der Analyse gelernt, dass es einiger Voraussetzungen bedarf, um proaktive Verwaltungsleistungen umzusetzen: Dazu zählt Vertrauen der Zielgruppe, eine entsprechend gestaltete Regulatorik im juristischen Sinne, aber auch prozessual im Sinne von Ressourcen. Der politische Wille ist ebenso entscheidend.
Neben diesen Faktoren spielen auch technische Aspekte eine essenzielle Rolle: Wir brauchen eine elektronische ID, abrufbare digitale Register und eine interoperable Verwaltungs-IT, die über Ressortgrenzen hinweg funktioniert. Auch Servicekonten sind eine Grundvoraussetzung für die antragslose Nutzung und Umsetzung proaktiver Leistungen.
Zudem ist ein digitales Postfach erforderlich, um unkompliziert mit Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die aktuelle Rechtsgrundlage ein proaktives Zugehen auf Bürgerinnen und Bürger auf elektronischem Weg nicht zulässt. Hierfür müssen neue regulatorische und technische Lösungen gefunden werden. Nicht zuletzt müssen Prozesse für proaktive Services radikal neu gedacht und designt werden inklusive des damit verbundenen Service-Designs.
Bei der Umsetzung müssen wir unterscheiden, welches Maß an Proaktivität wir bei einer Leistung anstreben. Auf der niedrigsten Stufe findet eine proaktive Information statt. Daneben reicht die Bandbreite von teilproaktiven Services, bei denen man als antragstellende Person noch einen Teil beitragen muss, bis hin zu quasi unsichtbaren Leistungen, die man automatisch erhält, zum Beispiel die Steuer-ID bei der Geburt.
Am Ende ist meine ganz persönliche Erkenntnis, dass der Erfolgsfaktor Kooperation eine wichtige Rolle spielt. Wir brauchen Verbündete in der Verwaltung, die mit uns an einem Strang ziehen und eine Leistung zukünftig proaktiv anbieten wollen. Konkret haben wir in Hamburg die Digitalisierungskolleginnen und -kollegen der Bezirksverwaltung als Kooperationspartner von Anfang an mit im Boot gehabt.
Aus meiner Sicht ein perfekter Partner, denn dort werden die meisten Leistungen bei unseren Kundinnen und Kunden erbracht. Daher freue ich mich insbesondere darüber, dass erste Pilotideen nun dort vorangetrieben werden. In Hamburg werden Bürgerinnen und Bürger beispielsweise schriftlich auf das Auslaufen ihres Personalausweises aufmerksam gemacht. Über einen mitgelieferten Link können sie online einen Termin vereinbaren.
Fazit
Beispiele wie das Elterngeld in Estland und Österreich zeigen, dass proaktive Verwaltungsleistungen möglich sind und enormes Potenzial bieten – für die Bürgerinnen und Bürger und für die Verwaltung. Um die Aufmerksamkeit für die proaktive Verwaltung zu steigern, brauchen wir auch in Deutschland sichtbare Erfolgsbeispiele. Dafür bedarf es Personen in der Verwaltung, die dies mit persönlicher Leidenschaft vorantreiben, die die Unterstützung in den Führungsebenen haben und in der Lage sind, auch unter unperfekten Bedingungen einen ersten Erfolg zu präsentieren, damit möglichst viele noch mehr Lust auf das Thema bekommen.
Annika Busse ist stellvertretende CIO Hamburgs und leitet das Referat „Steuerung Fachverfahren und neue Technologien“ im Amt für IT und Digitalisierung in der Senatskanzlei.