Die Transformation der Stahlindustrie gleicht einer Operation am offenen Herzen. Kaum ein europäischer Stahlhersteller schreibt schwarze Zahlen, es wird global viel mehr Stahl produziert als verkauft werden kann und Zölle, Energiepreise und Unsicherheiten drücken weiter auf die Gewinne. Aus der Portokasse bringt aktuell kein Unternehmen die notwendigen Investitionen in den klimaneutralen Umbau auf.
Diese Probleme sieht auch ein Netzwerk aus über dreißig klima- und umweltpolitischen Organisationen und Think Tanks, von Spanien bis Finnland und Rumänien, das die Stahl-Transformation europaweit unterstützen möchte und heute den Report „The State of the European Steel Transition“ vorlegt. Die Kernbotschaft: Klimaschutz ist unverhandelbar und die wahrscheinlich einzige Chance, die die europäische Stahlindustrie hat, um aus der Krise zu kommen.
Die Unternehmen selbst wollen transformieren, haben bereits Milliarden in den Umbau investiert. Europas Industrie kann sich nicht auf günstige Energie und billige Arbeitskräfte stützen. Ihre einzige Chance ist auf technologische Innovation und Knowhow zu bauen, um neue Maßstäbe in Produktivität der Prozesse und verwendeten energetischen und stofflichen Grundlage sowie der Qualität und des niedrigen Klima-Fußabdruckes der Produkte zu setzen. Klar ist, dass das nur in einem produktiven regulatorischen Marktumfeld passieren kann.
Europäische Lösungen für globale Probleme
Das komplizierter gewordene geopolitische Umfeld und die veränderte regionale Verfügbarkeit potentieller grüner Energien, werfen Fragen auf, die nur gesamteuropäischen beantwortet werden kann: Wie wollen wir mit der Abkehr von der alten Weltordnung umgehen und wieviel Grundstoffindustrie wollen wir in Europa erhalten? Wie bei der Rohstoffversorgung reichen sich auch im Stahlbereich die Ziele Klimaschutz und Resilienz die Hand in Form der Kreislaufwirtschaft. Die Hebung der Schrottqualitäten und -Verwendung zur Sekundärstahlproduktion ist der ressourcen-, energie- und klimaeffizienteste Weg zur Stahlproduktion der Zukunft.
Doch auch den Erhalt und die Dekarbonisierung der europäischen Primärstahlhersteller und ihrer Hochofenflotte ist aus Industrie-, Arbeitsmarkt- und Klimapolitischen Gründen wichtig. Erstmalig wurden mit der Veröffentlichung des „The State of the European Steel Transition“ Reports Zahlen und Fakten über alle europäischen Stahlstandorte, samt Hochofendatenbank, Transformationsplänen und Subventionszusagen zusammengetragen. Der Report zeigt deutlich: Nicht nur die Herausforderungen sind quer durch Europa sehr ähnlich, ob in Duisburg, Eisenhüttenstadt, Gijon oder Galati; auch die Lösung für die Transformationskonflikte müssen europäisch sein.
Deutsche Vorreiterrolle nicht verspielen
Die Zahlen zeigen, dass Deutschland im europäischen Vergleich gut aufgestellt ist für die Transformation der Stahlindustrie. Mehr als sieben Milliarden Euro an ratifizierten und teils schon investierten Subventionen haben private Investitionen in etwa gleicher Höhe ausgelöst. Das Wasserstoffkernnetz ist auf den Weg gebracht und auch bei Ansätzen und Konzepten zur Etablierung von Standards, Leitmärkten und Kreislaufwirtschaft gab es in den vergangenen Jahren wichtige Fortschritte. Zusammen genommen sind das große Schritte in Richtung zukunftsfähigem Stahl.
In allen anderen EU-Staaten zusammengenommen, sind gerade einmal knapp zwei Milliarden Euro geflossen. Natürlich hat Deutschland mehr finanziellen Spielraum, aber auch eine viel größere Verantwortung: 30 Prozent der europäischen Produktionskapazitäten und 15 noch funktionsfähige Hochöfen sind mehr als in den nächstplatzierten Ländern Frankreich, Italien und Österreich zusammen.
Gerade Mittel- und Osteuropa haben besonders herausfordernde Transformationsbedingungen: enormen Investitionsbedarf, aber Unternehmen mit Hauptquartieren in London und Luxemburg, denen im Zweifel die lokalen Standorte mehr am Herzen liegen als die in der Peripherie.
In Deutschland hingegen schaffen die enge Verflechtung der deutschen Traditionsunternehmen mit ihren Regionen und dem sozialpartnerschaftlichen Sonderweg der Montanmitbestimmung sowie teilweise Eigentumsstrukturen mit Länder- und Stiftungsbeteiligungen, gute Voraussetzungen, die Transformation zwar nicht konfliktfrei, aber dafür beherzt und gründlich zu schaffen. Klappt die Erneuerung der Stahlindustrie hier, kann sie auch europaweit gelingen. Auch Länder wie China, Indien und die USA schauen genau hin.
Doch klar ist auch, auch Deutschland wird den Weg nicht alleine schaffen. Wasserstoffimporte müssen europaweit und mit Nachbarregionen koordiniert werden. Bezahlbare Wasserstoffauktionen mit klaren Sektorpriorisierungen können nur europäisch funktionieren. Und auch der Netzausbau sowie die Schaffung eines zukunftsfähigen grünen Energiemarktes sind gesamteuropäische Aufgaben.
NGO-Netzwerk legt umfangreiches Maßnahmenpaket vor
Der jetzt vorgelegte Report des Netzwerks sendet ein klares Signal, dass sich die klimapolitische Zivilgesellschaft konstruktiv an dem europäischen Mammutprojekt Stahltransformation beteiligen möchte, und einen Appell, die Pläne zur Grünstahlproduktion mit Wasserstoff fortzusetzen. Dass schon längst im Bau befindliche Projekte aus unterschiedlichen Richtungen wieder grundsätzlich in Frage gestellt werden, ist wenig hilfreich. Das Zögern macht aber deutlich, dass es für die gesamte europäische Stahlindustrie schnellstmöglich ein klares Zielbild und Transformationspläne auf Unternehmens- und Standortebene geben muss. Diese müssen auch Kreislaufwirtschafts-, Elektrifizierungs- und Mitbestimmungsaspekte beinhalten.
Vor allem braucht es aber ein klares industriepolitisches Paket der EU, dass die Stilllegung Kohle-basierte Stahlproduktion forciert und zugleich den Aufbau neuer, auf Erneuerbaren Energien und grünem Wasserstoff basierenden Produktionskapazitäten ermöglicht. Die Schlüssel heißen schneller Ausbau von Erneuerbaren und Netzen, Förderung und Leitmärkte. Mehr Transparenz und Konditionalität braucht es bei einer europäisch ausgeweiteten Förderpolitik.
Ein einheitlicher europäischer und klimapolitisch ambitionierter Standard zur Schaffung von europäischen Leitmärkten sowie klaren Vergaberegeln sind zum Glück schon weit oben auf der Prioritätenliste der EU-Kommission. Die Konzepte dafür liegen auf dem Tisch – jetzt sind Bundesregierung und die Europäische Union am Zug, die Weichen für eine zukunftsfähige Stahlindustrie richtig zu stellen.