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Energie & Klima

Standpunkte Die zwei entscheidenden Faktoren der digitalen Revolution

Jeder spricht von der Digitalisierung der Energiewelt. Doch häufig fehlt es an Klarheit, wie ihren beiden Komponenten den Erfolg neuer Geschäftsmodelle bestimmen. Die erste, die Dezentralität, ist bekannt. Die zweite, die Heterogenität, wird oft zu wenig berücksichtigt. Dabei ist die Unterscheidbarkeit der Produkte wichtig für das Interesse der Konsumenten. In ihrem Standpunkt analysieren Barbara Hennecke und René Mono von der 100 Prozent Erneuerbar Stiftung den Unterschied.

von Barbara Hennecke

veröffentlicht am 03.04.2018

aktualisiert am 05.06.2023

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Wie gelingt die Energiewende? Mit großen, potenten, zentralen Kraftwerken oder kleinen, flinken, dezentralen Anlagen? Während die Energiewelt noch diskutiert, sind andere Branchen schon weit gekommen auf dem Weg der Dezentralisierung – unterstützt durch die Digitalisierung, wie zum Beispiel in den Bereichen Nachrichten, Musik oder Tourismus. Diese Entwicklung entsprach schlicht dem Nutzerwunsch nach ständiger, barrierefreier und individueller Verfügbarkeit von Waren und der Bereitschaft, dafür eigene Daten einzuspeisen.


Doch wie sieht es im Falle unseres Energiesystems aus? Welche Rolle spielt die Digitalisierung in der Erfassung und Befriedigung der Kundenwünsche? Wie revolutionär ist das Potential der Digitalisierung für das Energiesystem wirklich? Und was heißt eigentlich dezentral? Die 100 Prozent Erneuerbar Stiftung hat dazu mit zahlreichen Experten gesprochen, recherchiert und daraus eine Reihe von Thesen entwickelt, die hier vorgestellt werden.


Für die Entfaltung des Potentials der Digitalisierung gibt es zwei entscheidende Faktoren: echte Dezentralität und weitgehende Heterogenität des Produkts. Bezüglich der Dezentralität bedeutet Digitalisierung: Anwender können direkt mit Anbietern kommunizieren und Transaktionen eingehen, ohne dass ein Unternehmen oder Dienstleister dazwischensteht. Beispiele hierfür sind Arcade City – ein dezentraler Nachbau von Uber, in dem Fahrer unmittelbar miteinander kommunizieren und die Dienstleistung formen. Oder File Coin, das dezentrale Speicherplätze vermittelt.


Sie eint, dass kein einzelnes Unternehmen Daten und Transaktionen aggregiert. Außerdem sind in einem wirklich dezentralen Netz Datenpunkte, die von Anwendern freigegeben werden, feingranular – das heißt spezifisch für einen Nutzen – und können nur autorisiert kopiert und weitergegeben werden. Diese Daten können beispielsweise die Basis für ein bedürfnisorientiertes Energiesystem sein. Die Digitalisierung stellt also die perfekte Ergänzung für ein dezentralisiertes Wirtschaftssystem dar, da sie die Befriedigung von individuellen Wünschen ermöglicht – etwas, was in einem zentralen Wirtschaftssystem meist an den zu hohen Kosten der individuellen Transaktionen zwischen kleinen Anbietern und kleinen Nachfragern scheiterte. Gelöst wurde dieses Problem durch die Aggregation von Angebot und Nachfrage. Bestes Beispiel hierfür sind die Strukturen im Einzelhandel, wo große Konzerne oder Grossisten den Ton angeben.


Im Verlauf der Energiewende sind bereits viele kleine Erzeuger entstanden – und der Verbrauch ist sowieso dezentral. Jedoch treten auch hier Aggregatoren auf, wie zum Beispiel Direktvermarkter oder Energielieferanten. Wie im Einzelhandel liegt auch in der traditionellen Energiewirtschaft ihre Daseinsberechtigung in den Transaktionskosten begründet. Diese würden in einem radikal dezentralisierten, digitalisierten Wirtschaftssystem wegfallen. Ein Grund, warum viel dafür spricht, dass Plattformen wie Spotify, Airbnb oder (um ein Beispiel aus der Energiewirtschaft zu nennen) enyway zwar Kinder der digitalen Revolution sind. Doch weil auch ihre Existenz sich alleine mit Transaktionskosten begründen lässt, ist zu befürchten, dass die Digitalisierung wie jede richtige Revolution ihre Kinder frisst.


Damit die Digitalisierung diese revolutionäre Wirkung tatsächlich entfalten kann, muss – laut Expertenmeinung – ein zweiter Faktor erfüllt sein: der der Heterogenität. Denn solange man davon ausgehen kann, dass alle Verbraucher mehr oder weniger die gleichen Bedürfnisse haben, bleibt die durch die Digitalisierung forcierte Dezentralisierung aus Verbrauchersicht sinnlos.


Es ist genau dieser Aspekt, der manchen Experten an dem revolutionären Potenzial der Digitalisierung für die Energiewende zweifeln lässt. Denn sind Strom und Wärme nicht beste Beispiele für durch und durch homogene Produkte? Man sieht sie nicht, man kann sie nicht anfassen, sie schmecken nicht und riechen nicht – jedenfalls nicht gut. Dass Strom also beispielweise ein Prestigeprodukt darstellen würde, das den Anwender schön, sexy oder cool erscheinen ließe, lässt sich wahrlich nicht behaupten. Daher erscheint es zunächst fraglich, ob die Digitalisierung bei Strom ihren großen Vorteil entfalten kann, nämlich individuelle Präferenzen in der Anwendung zu bedienen, für die es bislang keinen Marktplatz gab.


Bisherige digitale Geschäftsmodelle erkennen zwar die Dezentralität der Energiewende an, können aber keine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Heterogenität des Produkts, das sie auf ihrer Plattform anbieten, geben. Ein richtig gutes Geschäftsmodell bedient jedoch beide Faktoren. Es ist es deswegen wert, auf den Aspekt der Heterogenität ausführlicher einzugehen.


Die zentrale Rolle der Heterogenität


Musik und Spotify sind ein gutes Beispiel für eine digitale Plattform, die den Faktor Heterogenität bedient. Der User zahlt einen recht geringen Grundbetrag und hat Zugriff auf Millionen unterschiedlichster Tracks, subsummiert unter allen möglichen Genres und Versionen. Access over ownership – der User kauft den Zugang, nicht die Kopie. Und auch für Musiker bietet die Plattform mittels ein paar Klicks und eine Gebühr eine internationale Listung ihrer Kunst.


Spotify ist also ein exzellentes Beispiel für eine Plattform, die das dezentrale Angebot und die dezentrale Nachfrage zusammenführt. Viel wichtiger jedoch: Bei Musik und ähnlichem gilt „Die Geschmäcker sind verschieden“. Was den einen elektrisiert, ist für den anderen kaum erträglich. Wofür der Heavy-Metal-Fan gut und gerne 30 Euro zahlt, dafür müsste man einem Klassik-Liebhaber wohl mindestens den gleichen Betrag als Entschädigung anbieten, damit er bereit wäre, die gleiche Musik anzuhören.


Bei Musik gibt die Präferenz den Ton an und der Nutzen dessen, was aus meinen Boxen kommt, ist individuell sehr verschieden. Spotify bietet nun das Versprechen, diese spezifischen Präferenzen zielgerecht zu erfüllen. Vorbei sind also die Zeiten, in denen Musikliebhaber ihre CDs und Platten digitalisieren mussten oder mit Freunden illegalerweise MP3s tauschten und dabei doch immer an die Grenzen des Angebots stießen. Sie liefen Gefahr liefen, am Ende doch nicht das hören zu können, was wirklich ihrem Geschmack entsprach.


Der Nutzen dessen, was aus der Steckdose oder Heizung kommt, ist wiederum nicht individuell – egal wer der Lieferant ist. Ökostrom riecht nicht besser, die Lampe scheint nicht heller, und das E-Mobil fährt mit Ökostrom nicht schneller als mit herkömmlichem.


Die Schwierigkeit, aus Strom ein heterogenes Produkt zu machen, verdeutlicht kaum ein Angebot besser als enyway. Es bezeichnet sich als das Airbnb der Energiewirtschaft, also als Vermittler zwischen Anbieter und Anwender. Enyway verbindet Kleinerzeuger mit Verbrauchern. Theoretisch kann sich der Kunde aussuchen, von wem sein Strom kommt. Tatsächlich kommt bei ihm natürlich der Strommix an, der aktuell im Netz ist.


Und hier unterscheidet sich enyway vom Vorbild Airbnb. Denn in der eigentlichen Version von Airbnb bietet der Hersteller  beziehungsweise hier Vermieter für den Kunden tatsächlich einen Qualitätsunterschied. Insofern dass der User statt eines 08/15-Hotelzimmers eine persönlich eingerichtete Ferienwohnung findet. Das Modell von enyway folgt dennoch im Ansatz seinem Vorbild Airbnb: Vermittlung und Datenmonopolisierung. Sprich: Es ist weder die Heterogenität gegeben, noch die wirkliche Dezentralität. Und somit schöpfen enyway und ähnliche Plattformen das digitale Potential nur begrenzt aus.


An diesem springenden Punkt entscheidet sich unserer Ansicht nach das Erfolgspotential von digitalen und dezentralen Energiedienstleistungen. Denn die bloße Digitalisierung rückt die Energie nicht in den Fokus des Anwenders. Dieser erscheint nämlich häufig recht arglos, wenn es um Energie geht – im Gegensatz zu Smartphones oder Videostreaming.


Digitalisierung allein wird das Energiesystem nicht disruptieren


Allerdings muss vor einem Trugschluss gewarnt werden. Dass nun Energie A nie besser riechen, schmecken oder sexier als Energie B sein wird, heißt noch nicht, dass die Homogenität der Verbrauchspräferenzen gottgegeben ist. Es geht beispielsweise um die Frage, wie flexibel der eigene Stromverbrauch ist. Diese Frage leitet eine aktive Entscheidung des Verbrauchers ein, der bestimmt, wann er für gewöhnlich welches Gerät nutzen möchte.


Hierfür kann er dann die Automatisierung nutzen und seine Geräte nach seinen Bedürfnissen programmieren. Oder, als Fragen formuliert: Wie flexibel kann Stromkunde C. später zur Arbeit erscheinen, falls sein Elektroauto noch nicht geladen ist, da der Strom morgens um acht billiger ist als um sechs Uhr? Wird Verbraucherin S. von ihrem Handy eine Stunde später geweckt, weil dann der Strom zum Kaffeekochen günstiger ist? Bis hin natürlich zu sehr atypischen Verbrauchsmustern, etwawenn User nachts um drei Playstation spielen. Wenn diese Präferenzen kundenvorteilig abgebildet werden, kann die Digitalisierung wirklich das letzte und entscheidende Puzzleteil der dezentralen Energiewende sein.


Es gibt noch weitere Entwicklungsstränge. Energie war lange Zeit ein klassisches Versorgungsprodukt, um das sich Nutzer wenig bemühen mussten. Diese Logik auf Seiten der Unternehmen und Verbraucher prägt nach wie vor unser Energiesystem. Nun bieten sich durch Dezentralisierung und Digitalisierung zwar neue Wege an – aus quantitativer Energieversorgung wird qualitativer Energieservice. Jedoch braucht es Zeit, bis sich alle Marktteilnehmer umorientieren.


Das wiederum geht mit neuen Rollen und Zuständigkeiten einher. Wir werden in den nächsten zehn bis 15 Jahren nicht nur viele Geschäftsmodelle kommen und gehen sehen, sondern auch viele professionelle Marktteilnehmer. Ausschlaggebend wird sein, wem es gelingt, ein wirklich heterogenes und dezentrales Angebot zu gestalten.

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