Es ist noch gar nicht so lange her, da glaubten wir, der globalisierte Weltmarkt würde uns auf ewig Rohstoffe, Komponenten und Güter zur Verfügung stellen. Spätestens mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und der damit einhergehenden Gaskrise hat sich diese Annahme als folgenschwere Selbsttäuschung erwiesen.
Vielmehr hat sich eindrucksvoll gezeigt, wie verwundbar unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft sind, wenn wir uns einseitig von wenigen – im schlimmsten Fall autokratisch geführten – Ländern abhängig machen. Die Lehre, die daraus schnell gezogen werden sollte, ist, dass Resilienz in den Mittelpunkt zukünftiger Politik gehört. Resilienz bedeutet Widerstandsfähigkeit und meint in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, externe Schocks oder Verwerfungen – insbesondere mit Blick auf unsere internationale Einbettung – aushalten und abfedern zu können.
Eine resiliente Wirtschaft ist die Voraussetzung für politische Souveränität. Denn nur eine Situation, in der die EU und ihre Mitgliedstaaten in zentralen Fragen der wirtschaftlichen Prosperität nicht erpressbar sind, gibt die notwendige politische Freiheit für souveränes Handeln und damit europäische Sicherheit.
Außerhalb Europas wird längst entschlossen gehandelt
Andere Weltregionen haben dies längst erkannt und sind hier deutlich weiter als Deutschland und Europa. Die USA haben mit der Einführung des sogenannten Inflation Reduction Act (IRA) eine wichtige und begrüßenswerte Kehrtwende in Richtung Klimaschutz vollzogen, gleichzeitig aber deutlich gemacht, dass wichtige Zukunftsindustrien aus Resilienzgründen in den USA angesiedelt werden sollen. Dafür wird viel Geld bereitgestellt. Indien startet ähnliche Programme, mit denen wichtige Zukunftstechnologien nach Indien geholt werden sollen. Und China arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt sehr erfolgreich darauf hin, Weltmarktführer für Transformationstechnologien entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu werden.
Gerade angesichts dieser Entwicklungen und der enormen geopolitischen Herausforderungen dürfen Europa und Deutschland beim Aufbau einer klimaneutralen Wirtschaft nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen und sich bei zentralen Schlüsseltechnologien der Transformation von wenigen Staaten abhängig machen. Während in der alten fossilen Wirtschaft der Brennstoff im Mittelpunkt der Abhängigkeitsfragen stand, muss in der klimaneutralen Wirtschaft der Anlagenbau, also der Kapitalstock, im Vordergrund stehen. Mit Ausnahme von grünem Wasserstoff und Bioenergie werden Brennstoffe in der neuen klimaneutralen Welt kaum mehr benötigt.
Sieben zentrale Transformationstechnologien
Die Stiftung Klimaneutralität hat deshalb in der Studie „Souveränität Deutschlands sichern. Resiliente Lieferketten für die Transformation zur Klimaneutralität 2045“ analysieren lassen, wie robust Deutschland als größtes Mitgliedsland der EU hinsichtlich der Resilienz bei zentralen Transformationstechnologien über die gesamte Lieferkette aufgestellt ist. Insgesamt wurden sieben Bereiche identifiziert: Photovoltaik, Windenergie, Lithium-Ionen-Batterien, Permanentmagnete, Elektrolyseure zur Herstellung von grünem Wasserstoff und auf industrieller Seite die Produktion von grünem Stahl.
Die Ergebnisse sind alarmierend. Bei fast jeder einzelnen der so wichtigen Zukunftstechnologien sind prekäre Abhängigkeiten festzustellen – und zwar in einem viel größeren Ausmaß, als es je bei Gas der Fall war.
In der Solarindustrie dominiert China die gesamte Lieferkette von der Rohstoffverarbeitung über die Herstellung von Zwischenprodukten bis hin zur Endfertigung. Besonders drastisch ist die Abhängigkeit bei den Vorprodukten Ingots und Wafer, bei denen China einen Weltmarktanteil von 97 Prozent hat. Derzeit werden in Europa noch 0,5 Prozent produziert. Mit anderen Worten: Fällt China als Lieferant aus, kann kein anderes Land zeitnah diese Lücke füllen. Der Ausbau der Solarstromerzeugung käme völlig zum Erliegen.
Nicht besser sieht es bei Komponenten für den Ausbau der Elektromobilität und der Windkraft aus, wie zum Beispiel den Permanentmagneten, die in der öffentlichen Diskussion bisher wenig Beachtung finden, aber von hoher Relevanz sind. Permanentmagnete werden in 100 Prozent der Elektro-LKW, in 95 Prozent der Elektro-PKW und in 95 Prozent der Offshore-Windkraftanlagen eingebaut.
Chinas Weltmarktanteil bei diesen Dauermagneten liegt bei 94 Prozent, ein Prozent wird in Europa hergestellt. Die hierfür benötigte Rohstoffverarbeitung von leichten und schweren Seltenen Erden findet zu 87 beziehungsweise 100 Prozent in China statt.
Aber auch die Produktion von grünem Stahl in Deutschland und Europa zu etablieren, ist eine Herausforderung. Für die notwendigen sogenannten Direktreduktionsanlagen (DRI), die die heutigen Hochöfen ersetzen, gibt es weltweit nur zwei Anbieter. Hier gilt es deshalb, sehr schnell DRI-Anlagen zu kontrahieren, um vor der zu erwartenden großen Auftragswelle zu sein.
Sieben entscheidende Rohstoffe
Hinsichtlich der benötigten Rohstoffe kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass für die genannten Schlüsseltechnologien vor allem sieben Rohstoffe als kritisch einzustufen sind: Iridium, schwere und leichte Seltene Erden sowie Lithium bei der Rohstoffgewinnung, Kobalt, Mangan, Nickel und Graphit bei der Rohstoffverarbeitung. Einerseits ist die relativ geringe Anzahl kritischer Rohstoffe eine gute Nachricht, andererseits sind die konkreten Abhängigkeiten von China gerade bei der Rohstoffverarbeitung immens.
China hat hier einen Weltmarktanteil von 100 Prozent bei den schweren Seltenen Erden, 100 Prozent bei Graphit, 95 Prozent bei Mangan und 87 Prozent bei leichten Seltenen Erden. Am 20. Oktober 2023 hat China seinen strategischen Vorteil bei Graphit auf die weltpolitische Tagesordnung gesetzt. Ab dem 1. Dezember 2023 müssen heimische Exporteure eine Ausfuhrgenehmigung für mehrere Graphitprodukte einholen.
Die bisherigen Bemühungen reichen nicht
Sowohl Deutschland als auch die EU versuchen, Strategien zu entwickeln, um die beschriebenen Abhängigkeiten zu mindern. Mit den bisherigen Ausprägungen ihrer politischen Initiativen gehen sie jedoch nicht weit genug, um effektiv und umfassend Veränderungen und damit Resilienz zu erreichen.
Mit der schnellen Umsetzung eines Resilienzpaketes aus drei Elementen, noch in dieser Legislaturperiode, könnte eine robuste Basis für unsere wirtschaftliche und politische Souveränität gelegt werden:
Erstens sollten die politischen Weichen in Europa und Deutschland sehr schnell und konsequent so gestellt werden, dass ein solider Sockel an heimischer Produktion der jeweiligen Technologien in der EU entstehen kann. Dabei ist jeweils die gesamte Wertschöpfungskette zu betrachten. Hierfür sind stabile heimische Absatzmärkte für transformative Schlüsselindustrien zu schaffen, gezielte Fördermaßnahmen einführen, die auch klare Umwelt- und Sozialverträglichkeitsanforderungen beinhalten sollten.
Für die Solarindustrie ist das derzeit verhandelte Solarpaket I die Stunde der Wahrheit. Ohne eine klare Unterstützung der europäischen Produzenten, die in allen Wertschöpfungsstufen ankommt, werden die wenigen verbliebenen europäischen Solarunternehmen ihre Standorte nicht halten. Deutschland und Europa würden einen kaum zu unterschätzenden strategischen Fehler begehen.
Resilienz staatlich genau beobachten
Zweitens sollte ein umfassendes Resilienzmonitoring eingeführt und aufgebaut werden. Derzeit gibt es keine umfassenden Informationen, wie die Versorgung mit kritischen Rohstoffen und Zwischenprodukten in den nächsten Jahren sichergestellt ist. Die Beschaffung ist Aufgabe der betroffenen Unternehmen. Die Transparenz über den zukünftigen Bedarf und die kontrahierten Mengen kritischer Rohstoffe und Zwischenprodukte sollte aber aufgrund der hohen volkswirtschaftlichen Bedeutung eine staatliche Aufgabe werden. Eine leistungsfähige Resilienz-Institution sollte gegründet werden, die Entwicklungen bei der Rohstoffversorgung, aber darüber hinaus auch der gesamten Lieferketten monitort und gegebenenfalls anpassen und initiieren kann. Der diesbezügliche Blindflug sollte endlich beendet werden.
Drittens sind die internationalen Wirtschaftsbeziehungen deutlich zu diversifizieren. Im Rahmen von Transformations- und Industriepartnerschaften gilt es gerade mit Ländern des Globalen Südens gleichberechtigte Partnerschaften aufzubauen, bei denen die beschleunigte Dekarbonisierung der beteiligten Länder, als auch deren wirtschaftliche Prosperität und politische Resilienz im Fokus stehen.
Regine Günther ist seit gut einem Jahr Direktorin der Stiftung Denkfabrik Klimaneutralität. Von 2016 bis 2021 war sie für die Grünen Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz im Berliner Senat. Zuvor leitete sie als Direktorin den Fachbereich Klimaschutz und Energie des WWF Deutschland.