Die Klimapolitik droht in der Rangliste der von den Bürgern als wichtig betrachteten Themen auf einen unteren Rang abzustürzen. Frieden, Freiheit und Sicherheit, Migration, die wirtschaftliche Lage des Landes oder die Stabilität des Sozialstaates rücken in den Vordergrund. Auch in der Energiepolitik werden Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit von Energie und Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen wieder stärker gegenüber Klimaerwägungen gewichtet. Diese neue Lage wird auch den Bundestagswahlkampf prägen.
Allerdings muss verhindert werden, dass Klimapolitik auf einen back-seat verbannt wird. Auch wer vom Dauer-Alarmismus oder radikalen Protestformen der Klimaaktivisten genervt ist, kann nicht leugnen, dass die große Mehrheit der Wissenschaftler eine menschengemachte, fortschreitende Erderwärmung für einen gesicherten Fakt hält. Deshalb darf das Pendel nicht von der totalen Dominanz der Klimapolitik in die entgegengesetzte Richtung umschlagen.
Die Akzeptanz für Klimapolitik wird aber nur dann erhalten, wenn eine Kurskorrektur erfolgt. Klimapolitik darf nicht mehr als Bürokratiemonster mit unzähligen Reglementierungen, Berichtspflichten, Auslaufdaten, Verboten und mit immer höheren Kosten empfunden werden, die Bürger und Unternehmen überfordern. Wenn wir weiter machen wie bisher, verlieren wir den Grundkonsens, der bisher die Energiepolitik in Deutschland prägte.
Klimapolitisch nicht weit gekommen
Als junger Bundestagsabgeordneter veröffentlichte ich das Buch „Ein Planet wird gerettet. Eine Chance für Mensch, Natur, Technik“ (Econ-Verlag, 1992). Drei Jahrzehnte später begann ich an einem neuen Buch zu arbeiten, das jetzt erschienen ist: „Energiewende besser machen. Technik und Wirtschaft statt Ideologie“ (Herder). Die Grundbotschaft ist gleichgeblieben: Wir müssen sorgsam mit unserer Erde umgehen. Aber guter Wille, flammende Bekenntnisse zu immer ehrgeizigeren Zielen und die schönsten Modelltheorien vom grünen Tisch sind noch keine Klimapolitik. Es kommt auf die reale Umsetzung an – und zwar zu akzeptablen Kosten und ohne die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie zu beschädigen.
In Wahrheit sind wir klimapolitisch nicht weit gekommen: Zwar wird bei uns der Strom zu fast 60 Prozent aus erneuerbaren Energien erzeugt, aber der Energiemix in der Welt, in Europa und leider auch in Deutschland ist nach wie vor etwa 80 Prozent fossil. Statt deshalb aber immer neue, kompliziertere und in das Leben der Bürger einschneidende Instrumente zu ersinnen oder gar Degrowth und Deindustrialisierung zu propagieren, wie es Teile der Klimabewegung tun, sollte man einen anderen Kurs zur Eindämmung der Erderwärmung wählen:
1. Solar- und Windenergie sind von zentraler Bedeutung für die Energiewende, aber die Konzentration darauf ist ein Irrweg. Wir brauchen die Entfesselung aller Technologien, die CO2 reduzieren beziehungsweise binden.
- Es ist ein großer Erfolg Robert Habecks, die Abscheidung, den Transport, die Verpressung und Nutzung von CO2 im eigenen Lager durchzusetzen. Die Bundesländer werden nach der neuen Gesetzgebung sogar für On-shore-Verpressung optieren können. NRW, Sachsen oder Baden-Württemberg könnten ab 2025 kostengünstig, nämlich in der Nähe ihrer Zement-, Stahl- oder Chemiestandorte, CCS-Lagerstätten in Betrieb nehmen. Haben Sie den Mut dazu?
- Immer wichtiger werden der Transport und die Nutzung von CO2 etwa für Düngemittel, Baumaterialien oder synthetische Kraftstoffe.
- Wir brauchen klimaneutrale E-Fuels in großen Mengen für den Luft- oder Schiffsverkehr, weil sich beide nicht elektrifizieren lassen. Aber die verschiedenen klimaneutralen Kraftstoffe sind auch eine Option für den Straßenverkehr, vor allem für den Schwerlastverkehr oder die gewaltigen PKW-Bestandsflotten. Wenn der „Verbrenner“ nach 2035 mit klimaneutralem Kraftstoff fährt, bedarf es keiner Verbote.
- Wer den Klimawandel in den Griff bekommen will, benötigt grüne Moleküle. Eine Grüngas-Quote könnte diese Entwicklung zu klimaarmen Gasen fördern: Wasserstoff, Biomethan, Pyrolyse, Plasmalyse…
- Warum nicht einen Blick auf die neuen nuklearen Small Modular Reactors (SMR) werfen, wie es mehr oder weniger die ganze Welt tut? Es ist nicht im Sinne des Klimaschutzes, sich technologischen Innovationen ohne genaue Prüfung zu verschließen.
- Vielleicht wird es einen Durchbruch mit einer Technik geben, die wir noch gar nicht kennen. Wir müssen deshalb offen bleiben für innovative Lösungen.
2. Die bisherige Rigidität der Klimapolitik ist kontraproduktiv. Wir können nicht alles auf Knopfdruck perfekt klimaneutral machen. Wir benötigen Brückentechnologien und Transformationspfade, die man nicht gegen, sondern nur mit der Wirtschaft umsetzen kann. Ich bin Aufsichtsratsvorsitzender des Branchenverbands Zukunft Gas. Ich kenne bei unseren 135 Mitgliedsunternehmen niemanden, der nicht davon überzeugt ist, dass die Erderwärmung bekämpft werden muss und wir deshalb unsere Industrien umbauen müssen. Es wäre klug, wenn die Aktivisten der Klimabewegung den Unternehmern, Managern und Ingenieuren zuhören und mit ihnen zusammenarbeiten würden – anstatt pauschal zu unterstellen, dass es ihnen nur um die Verlängerung „fossiler Geschäftsmodelle“ geht.
3. Es gibt bei Robert Habeck – über die oben gezeigte Carbon Management Strategie hinaus – viele Ansätze zu einer pragmatischen Klimapolitik. Aber immer noch begegnet er zu viel Gegenwind in der eigenen Partei. Da ist nach wie vor zu viel Praxisferne und Ideologie im Spiel. Ein aktuelles Beispiel: Es ist ein wirklicher Erfolg, das in enger Zusammenarbeit mit der Wirtschaft ein Wasserstoff-Kernnetz konzipiert wurde, das im Wesentlichen aus umgewidmeten Erdgasleitungen bestehen wird. Aber das bringt wenig, wenn der Wasserstoff aus dem Kernnetz nicht weitergeleitet werden kann, weil eine Stilllegung großer Teile der 500.000 Kilometer langen Verteilnetze droht.
Die Bundesnetzagentur hat vor kurzem Kriterien veröffentlicht, welche Anforderungen an die Betreiber von Gasverteilnetzen definieren, die ihre Netze auf Wasserstoff umzustellen wollen. Die dabei zu überbrückenden bürokratischen Hürden sind so hoch, dass interessierte Verteilnetzbetreiber keine Möglichkeit sehen, in die Entwicklung ihrer Wasserstoff-fähigen Netze zu investieren.
Ist das nur Unwissenheit und Praxisferne oder doch der Versuch, mögliche Alternativen zur Wärmepumpe regulatorisch auszubremsen? Wer die Umwidmung der Verteilnetze von Gas auf Wasserstoff erschwert, geht in Wahrheit einen weiteren Schritt in Richtung der Deindustrialisierung Deutschlands, denn fast zwei Millionen Unternehmen werden durch die Verteilnetze mit Energie versorgt. Herr Habeck, bitte übernehmen Sie, indem Sie die Umwidmung der Gasverteilnetze auf klimaneutralen Wasserstoff erleichtern!
4. Unideologische Klima- und Energiepolitik heißt nicht, dass wir alles dem Markt überlassen können. Unsere stärksten Industrien - Automobil, Chemie, Maschinenbau, aber auch Zement, Stahl, Keramik, Papier und andere - sind aufgrund der hohen Energiepreise nicht mehr wettbewerbsfähig. Diese Entwicklung ist zwar zum größten Teil hausgemacht, aber dennoch müssen wir etwas tun. Der CEO des Stahlherstellers Georgsmarienhütte, Alexander Becker, hat vor kurzem im kleinen Kreis einen Vorschlag für einen Deutschland-Pakt unterbreitet: 1. Der Staat sorgt für wettbewerbsfähige Strompreise und Netzentgelte für die energieintensiven Industrien. 2. Die Unternehmen verpflichten sich, diese Förderung der Energiekosten 1:1 am Standort Deutschland zu investieren. 3. Die Gewerkschaften beteiligen sich mit zehn Prozent höherer Arbeitszeit, um die Produktivität zu steigern. Wie immer gibt es bei solchen Vorschlägen Fragezeichen und Gegenargumente. Aber es muss in die Richtung der Becker-Vorschläge gehen, wenn wir verhindern wollen, dass unsere Industrie zum Abwicklungsfall wird.
5. Wir brauchen über die Klima- und Energiepolitik endlich einen diffamierungsfreien Dialog. Wer Kurskorrekturen fordert, überehrgeizige Ziele bezweifelt und stattdessen Transformationspfade und Brückentechnologien befürwortet – darf nicht als Bremser, Verharmloser, Klimaleugner, als ignoranter Spinner oder fossiler Lobbyist an den Pranger gestellt werden.
Klimabewegung und Grüne sollten sich von ihrem eifernden Hochmut verabschieden. Sie müssen ertragen, dass es andere Sichtweisen gibt. Die Bilanz grüner Klimapolitik und das ausbleibende versprochene Wirtschaftswunder sind nicht annährend dazu angetan, einen besserwisserischen Moralismus zu rechtfertigen. Wir müssen das wichtige Klima-Paradigma vor den radikalen Klima-Apologeten schützen, die auf Schrumpfung der Wirtschaft als Mittel zur Minimierung von Treibhausgasemissionen setzen. Je pragmatischer, technologieoffener und kostenbewusster die Energiewende gestaltet wird, desto mehr wird die Akzeptanz in der Bevölkerung wieder zunehmen.
Staatssekretär a.D. Dr. Friedbert Pflüger, von 1990 bis 2006 Bundestagsabgeordneter (CDU/CSU), ist Geschäftsführender Gesellschafter der Stiftung Clean Energy Forum (CEF) und der Unternehmensberatung Pflüger International, die von großen nationalen und internationalen Energieprojekten wie Trans Adriatic Pipeline, Nord Stream 2 oder das LNG Terminal Stade mandatiert wurde. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender von Zukunft Gas.