Standpunkte Fünf wesentliche Hebel, sofern die Regierung es mit dem Wasserstoffhochlauf ernst meint

Der große Wasserstoff-Hype der vergangenen Jahre scheint vorbei zu sein. Dennoch sind die Anstrengungen verschiedener Unternehmen zum Ausbau der Produktion weiterhin groß. Graham Weale von der Universität Bochum hat ein Szenario für die frühen 2030er Jahre entwickelt, in dem der Markthochlauf gelingt.
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Jetzt kostenfrei testenDie neue Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche hat vor wenigen Wochen ihr neues Amt angetreten. Vorher war sie Vorstandsvorsitzende der Eon-Tochter Westenergie und zugleich Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrats. Gleichwohl hat sie diesen Energieträger in ihren ersten Reden kaum erwähnt, geschweige denn konkrete Ziele für den Markthochlauf genannt.
Der geplante Hochlauf erlitt in den vergangenen Jahren zunehmend Rückschläge. Erst vergangene Woche gab der Stahlkonzern ArcelorMittal bekannt, dass er sein geplantes wasserstoffbasiertes Stahlwerk aufgrund des Fehlens eines tragfähigen und nachhaltigen Geschäftsmodells nicht bauen werde. Dies weiter verstärkte die Zweifel, ob der Markthochlauf in absehbarer Zeit realisiert werden kann.
Aber Wasserstoff ist und bleibt für die Dekarbonisierung im Industrie- und Verkehrssektor unerlässlich. Wie kann der Hochlauf noch gelingen? Dafür gibt es fünf unabdingbare Voraussetzungen.
1. Die Gründung eines staatlichen Midstreamers
Die Einführung von Erdgas in den 1970er Jahren war eine Erfolgsgeschichte – sieht man einmal von der übermäßigen Abhängigkeit von Russland ab, die sich seit dem Jahr 2010 ergeben hat. In Deutschland erreichte Erdgas bis zum Jahr 2020 einen Marktanteil von 25 Prozent am Primärenergieverbrauch und brachte dem Land zahlreiche volkswirtschaftliche Vorteile und Umweltschutzvorteile.
Ausschlaggebend für den Erfolg waren starke Midstream-Gesellschaften wie Ruhrgas und Thyssengas in Deutschland sowie vergleichbare Unternehmen wie Gasunie (Niederlande), Distrigaz (Belgien), Gaz de France (Frankreich) und SNAM (Italien).
Sie verfügten über die nötige Marktmacht, um langfristige Verträge mit großen Lieferanten abzuschließen, diversifizierte Portfolios aufzubauen und das Gas an Stadtwerke oder große Industriekunden weiterzuverkaufen.
Im Vergleich zum geplanten Wasserstoffhandel wurde Erdgas zu Preisen verkauft, die denen der zu ersetzenden Ölprodukte ähnelten, nicht zu einem Vielfachen des Preises. Zudem verfügten die Abnehmer allesamt über eine ausgezeichnete Bonität. Im Gegensatz dazu verfügen aktuell etliche potenzielle Wasserstoffabnehmer nicht über ein Investment-Grade-Rating und blicken einer unsicheren Zukunft entgegen.
Aus diesen Gründen ist ein Wasserstoff-Midstream-Segment eine zentrale Voraussetzung für einen funktionierenden Markthochlauf. Da die wirtschaftlichen Risiken sehr hoch sind, kann es sich aktuell kein privates Unternehmen leisten, diese Verantwortung zu übernehmen. Daher bleibt zunächst nur die Möglichkeit, dass ein staatliches Unternehmen diese Rolle des Market Makers übernimmt.
Wie kann das gelingen? Eine Neugründung auf der grünen Wiese ist nicht notwendig. Es gibt bereits zwei Unternehmen, die sich aus unterschiedlichen Gründen in Staatsbesitz befinden – Uniper und SEFE, die ehemalige Gazprom Germania. Alternativ könnte das neue Handelsunternehmen H2 Global/Hintco deutlich breiter ausgebaut werden.
Die derzeitige implizite Vorstellung, dass der Handel ohne einen solchen zentralen Marktanker und damit primär aus bilateralen Verträgen bestehen sollte, ist weder realistisch noch optimal.
2. Die Änderungen kritischer EU-Gesetze
Um den Weg für staatliche Midstreamer zu ebnen, müssen die EU-Wettbewerbs- und Beihilfevorschriften angepasst werden beziehungsweise Sondergenehmigungen erteilt werden. Im Bericht von Enrico Letta (ehemaliger italienischer Ministerpräsident) aus dem Jahr 2024 wurden diese Vorschriften als veraltet bezeichnet, sie seien den aktuellen Marktherausforderungen nicht mehr gewachsen.
Bestehende Marktregulierungen, wie die EU-Richtlinie 2024/1788 über gemeinsame Vorschriften für den Binnenmarkt für erneuerbares Gas, Erdgas und Wasserstoff eignen sich gut für reife Märkte. Sie sind jedoch für junge Märkte wie den Wasserstoffmarkt, der einige Jahre auf hohe Subventionen angewiesen sein wird, kaum geeignet.
Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED II und III mit ihren delegierten Rechtsakten) stellt an die Herstellung grünen Wasserstoffs viel zu strenge Bedingungen. Anstatt Wasserstoff-quellen mit Farben zu kennzeichnen (grün und blau für Wasserstoff aus Erneuerbaren oder Erdgas mit CCS), sollten Nummern verteilt werden, die der jeweiligen Klimabilanz entsprechen. Dies ist wichtig, da auch sogenannter grüner Wasserstoff über den Lebenszyklus Emissionen von 1 bis 3 Kilogramm CO2 je kg H2 verursacht, abhängig von den jeweiligen Erneuerbaren-Anlagen und dem Transportmittel.
Fakt ist: Bis in die 2040er Jahre, wenn die Produktionsprozesse in den Fabriken weitgehend CO2-neutral sein müssen, werden die Ökobilanzen aus der Produktion und dem Transport von grünem Wasserstoff nicht bei null liegen können und teilweise kaum besser ausfallen als bei blauem Wasserstoff. Dieser weist eine vergleichbare Bilanz zwischen 2 und 4,5 Kilogramm CO2 je kg H2 auf.
Die Anpassung solcher gesetzlichen Rahmenwerke ist nicht einfach und wird eine ganze Legislaturperiode benötigen. Bezeichnenderweise hat bisher noch kein Mitgliedstaat die RED III in nationales Recht umgesetzt, was eigentlich bis zum 21. Mai dieses Jahres hätte geschehen sollen.
3. Vier Milliarden Euro Subventionen jährlich
Wasserstoff ist noch sehr teuer. Die aktuellen Preiseinschätzungen für 2030 liegen bei 7,0, 4,0 und 2,3 Euro/kg für grünen, blauen und grauen Wasserstoff. Um diese Differenzen auszugleichen, braucht es entweder Subventionen oder die Bereitschaft der Marktteilnehmer, einen deutlichen Aufpreis für die „sauberen“ Endprodukte zu zahlen. Die Höhe solcher Subventionen hängt von der Nachfrage und dem Preisunterschied zwischen sauberem Wasserstoff und den konkurrierenden Energieträgern ab.
Die Nationale Wasserstoffstrategie prognostiziert für 2030 einen Bedarf von 3 bis 4 Millionen Tonnen pro Jahr. Es ist nicht mehr realistisch, dieses Ziel so früh erreichen. Denkbar ist ein Bedarf von 3 Millionen Tonnen pro Jahr erst in Mitte der 2030er.
Grüner statt blauen Wasserstoffs würde jährlich 38 Millionen Tonnen CO2 statt 29 Millionen Tonnen vermeiden, aber zu Mehrkosten von rund 13 Milliarden Euro. Das entspricht einem impliziten CO2-Preis von knapp 1.400 Euro pro Tonne – kein gerechtfertigtes Preis-Leistungs-Verhältnis.
Die entsprechenden jährlichen Subventionen (allein für Betriebskosten) für diese Menge grünen Wasserstoffs lägen je nach Höhe des CO2-Preises zwischen 16 und 18 Milliarden Euro. Das ist nicht vorstellbar. Für blauen Wasserstoff jedoch wären nur zwischen 3 und 5 Milliarden Euro notwendig.
Die bestehenden/geplanten Subventionen durch die Klimaschutzverträge und H2Global liegen nur bei 0,7 Milliarden Euro pro Jahr – erheblich weniger als was notwendig ist. Daher an dieser Stelle ein klares Zwischenfazit: In den frühen 2030er Jahren ist nur blauer Wasserstoff bezahlbar.
4. Die Entwicklung geeigneter Versorgungsquellen
Dementsprechend müssen passende Quellen für blauen Wasserstoff identifiziert werden. Hierfür gibt es drei Optionen.
Erstens sollte geprüft werden, wie man das 2024 abgesagte Vorhaben zu einer H2-Pipeline von Norwegen nach Deutschland wiederbeleben kann. Es gab im Wesentlichen zwei Gründe für die Absage: das Fehlen langfristiger Zusagen europäischer Abnehmer und die mit dem Projekt verbundenen hohen Kosten. Der vorgeschlagene Midstreamer würde das erste Problem lösen, während die genannten Subventionen die zweite Herausforderung lösen könnten.
Zweitens gibt es zwei geplante Projekte für blauen Wasserstoff in Norddeutschland und den nördlichen Niederlanden: H2GE Rostock und H2M Eemshaven. Diese sollten jetzt über marktgerechte Anreize verbindlich gemacht und auf den Weg gebracht werden.
Drittens kann sauberes Ammoniak aus verschiedenen Ländern importiert und gecrackt werden. Projekte für sauberes Ammoniakexporte befinden sich bereits im Bau oder in der Planung in Nordamerika, dem Nahen Osten und Indien. Ammoniak wird bereits regelmäßig per Schiff transportiert. Voraussetzung ist, dass die Cracking-Technologie zur Extraktion des Wasserstoffs aus dem Ammoniak komplett erprobt wird und die Cracker installiert werden.
Ein realistischer Plan würde folgende Quellen beinhalten: 0,5 Millionen Tonnen pro Jahr aus deutscher und niederländischer Produktion an blauem Wasserstoff, 1,25 Millionen Tonnen pro Jahr an Importen aus Norwegen und 1,25 Millionen Tonnen pro Jahr über gecracktes Ammoniak.
5. Bau nur der notwendigen Teile des Wasserstoff-Kernnetzes
Die vorige Regierung beschloss 2023 den Bau eines bundesweiten Wasserstoff-Kernnetzes, dessen Finanzierung über ein Amortisationskonto erfolgen sollte. Diese Strategie war ein Fehler, wird am Markt nicht angenommen und muss umgehend korrigiert werden.
Eine zentrale Aufgabe des Midstreamers ist, als Hauptansprechpartner für den Infrastrukturausbau zu fungieren und damit sicherzustellen, dass der Bau eng an der Nachfrageentwicklung ausgerichtet ist. Andernfalls entstehen der Gesellschaft völlig unnötige Finanzierungskosten sowie viele Kilometer leerer Leitungen.
Fazit
Seit der Vorlage der Wasserstoffstrategie 2019 ist bereits sehr viel Zeit mit Absichtserklärungen und politischen Plänen verloren gegangen, die weder realistisch noch bezahlbar sind. Mit den in diesem Beitrag beschriebenen fünf Stellschrauben für einen zielgerichteten und marktnahen Wasserstoffhochlauf öffnet sich ein möglicher Weg nach vorn. Doch auch auf diesem stehen hohe Hürden, insbesondere die Notwendigkeit, auf EU-Ebene mehrere Gesetze zu ändern.
Im Grunde hat die neue Bundeswirtschaftsministerin eine einfache Wahl: Entweder sie orientiert sich an diesen fünf Stellschrauben und setzt sich stark für ihren Einsatz ein. Oder sie legt die bisherigen Wunschvorstellungen zu einem schnellen und marktkonformen Wasserstoffhochlauf zu den Akten.
Graham Weale ist Professor für Energiewirtschaft am Centrum für Umweltmanagement, Ressourcen und Energie (CURE) an der Ruhr-Universität Bochum. Er war zuvor Chefvolkswirt von RWE und hat einen Abschluss in Physik von der Universität Oxford sowie einen MBA. Weale ist Mitglied im Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) und befasst sich dort unter anderem mit Wasserstoff.
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