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Energie & Klima

Standpunkte Für die Wiederaufnahme des Energiedialogs EU-Türkei

Moritz Rau, Politikwissenschaftler
Moritz Rau, Politikwissenschaftler Foto: privat

Präsident Erdoğan bleibt an der Macht und Brüssel diskutiert über die Zukunft der EU-Türkei-Beziehungen. Klar ist: Neue Beitrittsverhandlungen wird es so schnell nicht geben, aber die Türkei bleibt ein wichtiger strategischer Partner für die EU. Deshalb sind neue Formen der Zusammenarbeit gefragt. Die Energie- und Klimapolitik bietet dafür großes Potenzial, meint der Wissenschaftler Moritz Rau in seinem Standpunkt.

von Moritz Rau

veröffentlicht am 31.07.2023

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Nach der Wiederwahl des langjährigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan steht in Berlin und Brüssel die Frage nach der Zukunft der EU-Türkei-Beziehungen auf der Agenda. So beauftragte der Europäische Rat jüngst den hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Josep Borrell und die Europäische Kommission, bis zum nächsten Gipfel im Herbst Vorschläge für die künftige Zusammenarbeit mit der Türkei zu machen.

Neue Beitrittsverhandlungen wird es so schnell nicht geben. Dafür sind die demokratischen und rechtsstaatlichen Defizite der Türkei für die EU zu gravierend. Stattdessen dürften die EU-Beamten auf eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der türkischen Nato-Partnerschaft drängen, eine Revision des EU-Türkei-Migrationsabkommens von 2016 vorschlagen und über eine Modernisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei nachdenken.

Noch keine hohe Priorität hat die Koordination und Zusammenarbeit in der Klima- und Energiepolitik. Dabei bietet es sich an, dort einen Schwerpunkt zu setzen und die Aufmerksamkeit auf diesen Bereich zu richten. Denn es gibt ungenutzte Kooperationsmöglichkeiten für eine Neuausrichtung der EU-Türkei-Beziehungen.

Drei Leitfragen müssen beantwortet werden

Konzeptionell sollte sich die EU bei der Suche nach neuen Initiativen im Energie- und Klimabereich mit der Türkei an drei Leitfragen orientieren.

Erstens: Wie kann die Türkei die EU beim Erreichen ihrer Energie- und Klimaziele unterstützen? Drei Schwerpunkte bieten sich an: die Erdgaspartnerschaft, der europäisch-türkische Stromhandel und die Perspektiven für den Import von grünem Wasserstoff aus der Türkei.

Als Transitland des südlichen Gaskorridors trägt die Türkei wesentlich zur Erdgasversorgung einiger EU-Staaten bei. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat diese Route an strategischer Bedeutung gewonnen.

Im Stromsektor ist der türkische Netzbetreiber TEİAŞ mit Beobachterstatus beim europäischen Verband der Netzbetreiber Entso-E vertreten. Erste Verbindungsleitungen nach Bulgarien und Griechenland bestehen bereits, der Stromhandel ist jedoch gering. Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien ist eine deutliche stärkere Integration der Türkei in den europäischen Stromraum anzustreben.

Eher neu ist die vor allem von Ankara und Berlin initiierte Zusammenarbeit im Bereich Wasserstoff. Deutschland sieht in der Türkei ein vielversprechendes Lieferland. Die Türkei verfügt über besonders günstige Voraussetzungen für erneuerbare Energien, über wettbewerbsfähige Unternehmen und über eine geografische Nähe zu Europa und Asien, die kurze Transportwege für die Lieferketten in Produktion und Handel ermöglicht. Es gibt bereits an das europäische Gasnetz angeschlossene Pipelines, die für die Beförderung von Wasserstoff umgerüstet werden könnten sowie Häfen, die für die Verschiffung von Wasserstoffderivaten wie Ammoniak und Methanol infrage kommen.

Abgesehen von kleinen Pilotprojekten ist grüner Wasserstoff aus türkischer Produktion jedoch ein Zukunftsthema. Das türkische Ministerium für Energie und natürliche Ressourcen veröffentlichte zuletzt eine Roadmap, mit ehrgeizigen Zielen für den Produktionshochlauf in den kommenden Jahren. Die EU könnte hier unterstützend tätig werden und eine stärkere europäische Verankerung der türkischen Wasserstoffstrategie anstreben.

Zweitens: Wie kann die EU die Türkei beim Erreichen ihrer Klima- und Energieziele unterstützen?

Da europäische Klimaaußenpolitik Drittstaaten bei der Erreichung ihrer Klimaziele helfen will, stellt sich die Frage, wie ernst es der Türkei mit dem Ziel der Klimaneutralität ist und wie sie dabei bestmöglich unterstützt werden kann.

Die Türkei hat erst 2021 als letzter G20- und OSZE-Staat das Pariser Klimaabkommen ratifiziert. Bis 2053 will das Land klimaneutral werden, doch Kritiker halten die dafür angekündigten Maßnahmen für unzureichend. Sie werfen der Regierung in Ankara unter anderem eine fehlende Strategie für den Kohleausstieg vor. Der Ausbau erneuerbarer Energien in der Türkei, so die Kritik, sei stattdessen vor allem von dem Motiv geleitet, die fast vollständige Abhängigkeit von teuren Energieimporten (Öl und Gas) zu reduzieren und damit sowohl die Handelsbilanz zu verbessern als auch die politische Unabhängigkeit zu stärken.

Generell steht die Türkei vor der Herausforderung, den ökologisch-energetischen Umbau bei gleichzeitig stark steigendem Energiebedarf umzusetzen. Und dies vor dem Hintergrund einer schweren Wirtschafts- und Währungskrise sowie den katastrophalen Folgen des Jahrhunderterdbebens im Südosten des Landes.

Die EU kann dabei mit Investitionen, Wissenstransfer und modernen Technologien unterstützen. Gleichzeitig lassen Instrumente wie der CO2-Grenzausgleichsmechanismus hoffen, dass exportorientierte türkische Firmen künftig auf eine emissionsärmere Wirtschaftsweise umstellen.

Und drittens: Wie kann die Energieabhängigkeit der Türkei von Russland verringert werden?

Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine stehen die Beziehungen zwischen Ankara und Moskau immer wieder im Fokus der Berichterstattung. Die Türkei beteiligt sich nicht an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland und muss sich nicht um ihre Energiesicherheit sorgen. Die türkisch-russischen Energiebeziehungen sind nach wie vor intakt. Der Anteil Russlands an den türkischen Gasimporten lag 2021 bei 44,9 Prozent. Ein großer Teil des türkischen Verbrauchs wird weiterhin durch Lieferungen aus Russland gedeckt. Die Ölimporte aus Russland haben sich zuletzt sogar verdoppelt. Hinzu kommt der vom russischen Staatskonzern Rosatom ermöglichte Einstieg der Türkei in die Atomenergie.

Die engen Verflechtungen sind vor allem den USA ein Dorn im Auge. Sie wollen, dass die Türkei als Nato-Partner ihre Energieabhängigkeit von Russland deutlich reduziert. Eine gemeinsame EU-Türkei-Agenda zu den Themen Versorgungssicherheit und Energiewende sollte daher darauf abzielen, der Türkei überzeugende Alternativen zu Importen aus Russland aufzuzeigen, um sie enger an die EU zu binden.

Für die Wiederaufnahme des Energiedialogs

Um die vielfältigen Ansätze der Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei im Energie- und Klimabereich zu strukturieren, bedarf es einer verlässlichen politischen Plattform. Es wäre daher sinnvoll, den Energiedialog EU-Türkei auf höchster politischer Ebene wieder aufzunehmen und jährlich stattfinden zu lassen.

Dieses Format geht auf die EU-Türkei-Migrationsabkommen von 2015 und 2016 zurück. Bisher konnte es jedoch nicht zum Tragen kommen, da die EU den Dialog nach kurzer Zeit aussetzte, um die vom Europäischen Rat als rechtswidrig eingestuften Erdgasbohrungen der Türkei vor der Küste der Republik Zypern zu sanktionieren.

Die derzeitige Annäherung in den griechisch-türkischen Beziehungen nach den Wahlen und dem verheerenden Erdbeben in der Türkei sowie die Tatsache, dass die Türkei seit einiger Zeit keine derartigen Tiefseebohrungen mehr durchführen ließ, bieten einen günstigen Zeitpunkt, den Energiedialog EU-Türkei auf höchster politischer Ebene zu reaktivieren.

Das Format könnte für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eine wichtige Steuerungsfunktion übernehmen. Eine gemeinsame Agenda, die Prüfung und Priorisierung von Einzelprojekten sowie die Formulierung zentraler Impulse und Empfehlungen sind denkbare erste Schritte.

Moritz Rau ist Politikwissenschaftler und war von Oktober 2019 bis Dezember 2022 in verschiedenen Funktionen für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) tätig. Unter anderem gastierte er als Stipendiat am CATS (Centre for Applied Turkey Studies) und arbeitete als Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen.

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