Standpunkte Große Hoffnung, begrenzter Nutzen: Klimaschutz mit Hilfe von internationalen CO2-Zertifikaten

Auf der vergangenen Weltklimakonferenz in Baku hat sich die Staatengemeinschaft auf gemeinsame Regeln für internationale CO2-Zertifikate geeinigt. Schon wird in Berlin und Brüssel überlegt, besagte Zertifikate zur Erreichung der eigenen Klimaziele einzusetzen. Doch Nicolas Kreibich und Felix Schenuit warnen vor neuen Abhängigkeiten und falschen Hoffnungen.
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Jetzt kostenfrei testenMit der Verschiebung politischer Prioritäten hat sich die klimapolitische Debatte grundlegend verändert. Es zeigt sich ein neuer Flexibilisierungsdruck: Neben dem Nachjustieren von Berichtspflichten für Unternehmen rücken auch internationale CO2-Zertifikate in den Fokus – wie zuletzt im neuen Koalitionsvertrag. Mit diesen im Abkommen von Paris verankerten Zertifikaten wird oft das Versprechen verbunden, Klimaziele kostengünstiger zu erreichen und Zeit zu gewinnen.
Dies wirft eine grundlegende Frage auf: Ist die Möglichkeit zur Nutzung internationaler Zertifikate sinnvoll, um die bestehende klimapolitische Architektur zu schützen, oder ist das nur der erste Schritt hin zu einer umfassenden Aushöhlung der Klimapolitik?
Überarbeitung des EU-Klimaschutzgesetzes
Die bevorstehende Verabschiedung des EU-2040-Ziels könnte bedeutende Weichen stellen: Der schwarz-rote Koalitionsvertrag knüpft die deutsche Zustimmung zu einem 90 Prozent-EU-Zwischenziel unter anderem an die Bedingung, bis zu drei Prozent des Ziels durch „glaubwürdige CO2-Reduktionen (…) in außereuropäischen Partnerländern“ zu erreichen.
Bereits seit 2019 sieht das deutsche Klimaschutzgesetz vor, dass staatenübergreifende Mechanismen eine Rolle spielen können (§3.3 KSG). Im EU-Klimaschutzgesetz hingegen ist festgelegt, dass die Ziele für 2030 und 2050 innerhalb der Union zu erfüllen sind (Art. 2.1/ 4.1). Vorschläge, das 2040-Ziel flexibler zu gestalten und internationale Zertifikate anzurechnen, sind schon länger Teil der Debatte. Doch was würde eine Flexibilisierung konkret bedeuten?
Artikel 6: marktbasierte Kooperation unter Paris
Die Idee, Klimaschutzziele mithilfe von Zertifikaten aus dem Ausland zu erreichen, ist nicht neu. Im Rahmen des Kyoto-Protokolls konnten Industriestaaten mithilfe von Zertifikaten aus Joint Implementation (JI) und Clean Development Mechanism (CDM)-Projekten einen Teil ihrer Klimaschutzziele im Ausland erfüllen.
Besondere Bedeutung erlangte der CDM. Er ermöglichte es, Minderungen aus Projekten in „Entwicklungsländern” anzurechnen, die unter dem Kyoto-Protokoll nicht zu Minderungszielen verpflichtet waren und in denen es erhebliche unerschlossene Minderungspotenziale gab. Erst im November 2024 in Baku konnte die Konkretisierung von Artikel 6 abgeschlossen werden, womit ein bedeutender Schritt in Richtung Operationalisierung des CDM-Nachfolgemechanismus gemacht wurde..
Der unter Artikel 6.4 angelegte Paris Agreement Crediting Mechanism (PACM) etabliert einen Mechanismus, der Regeln zur Durchführung von Klimaschutzmaßnahmen festlegt und Zertifikate ausstellt. Eine Doppelzählung der 6.4-Zertifikate bei der Nutzung zur NDC-Umsetzung soll durch die Einbettung des PACM in den unter Artikel 6.2 angelegten Verrechnungs- und Berichtsrahmen vermieden werden.
Dieser neu geschaffene Rahmen ermöglicht es, Emissionsreduktionen zwischen Staaten zu übertragen und auf nationale Klimaschutzziele (NDCs) anrechenbar zu machen. Um eine Doppelzählung zu vermeiden, verpflichtet sich das Gastgeberland, die Minderung nicht mehr bei der Erfüllung seines NDC zu berücksichtigen.
Fallstricke: Falsche Hoffnungen und neue Abhängigkeiten
Angesichts des neuen Flexibilierungsdrucks stellt sich die Frage, ob sich Deutschland und die EU für die Nutzung der Zertifikate öffnen sollten. Diese Frage ist umso berechtigter, wenn man bedenkt, dass Deutschland viele Initiativen finanziert, mit denen der Kapazitätsaufbau zu Artikel 6 in Partnerländern gestärkt werden soll. Allerdings sind drei Herausforderungen zu beachten:
Erstens die Qualität der Klimaschutzzertifikate. Zuletzt zeigte eine Meta-Studie, die etwa ein Fünftel der bisher ausgestellten CO2-Zertifikate abdeckt, dass bei weniger als 16 Prozent eine tatsächliche Klimaschutzwirkung zugrunde liegt. Dies legt ein Qualitätsproblem offen, das sich nicht auf einzelne Projekttypen beschränkt. Neue Mechanismen wie der PACM können die identifizierten Schwachstellen angehen. Ob es gelingen wird, die Qualitätsprobleme umfassend in den Griff zu bekommen, ist jedoch fraglich.
Zweitens besteht das Problem des Overselling. Anders als unter dem CDM-System müssen auch die Gastgeberländer selbst ihre NDCs erreichen. Problematisch wäre es, wenn eine verstärkte Nachfrage aus der EU und anderen Industriestaaten dazu führt, dass vor allem Zertifikate für leicht und günstig zu erreichenden Klimaschutz verkauft werden. Die Gastgeberländer müssten ihre NDCs dann über teureren und schwerer umzusetzenden Klimaschutz erreichen. In der Praxis ist dieses Risiko nicht immer leicht zu beurteilen. Zumindest in der Theorie könnte diese Dynamik dazu führen, dass die verkaufenden Staaten schwache NDCs setzen, um mehr Zertifikate verkaufen zu können.
Drittens ist die Verfügbarkeit hochwertiger Zertifikate begrenzt. Zertifikate aus dem PACM dürften zunächst vor allem aus überführten CDM-Projekten stammen – mit zweifelhafter Qualität. Bis Zertifikate aus neuen Projekten vorliegen, wird es dauern: Derzeit werden noch zentrale Standards verabschiedet. Bis zur Ausstellung der ersten Zertifikate werden vermutlich noch einige Jahre vergehen. Neben der zeitlichen Dimension stellt sich die Frage, welche Mengen an hochwertigen Zertifikaten es überhaupt geben wird. Das oben beschriebene Overselling-Risiko könnte insbesondere Länder mit ambitionierten NDCs davon abhalten, große Mengen an Zertifikaten für den Verkauf freizugeben.
Bedingungen für verantwortungsvollen Einsatz
In der Debatte um internationale Zertifikate ist Erwartungsmanagement zentral: Was auf den ersten Blick nach kosteneffizientem Klimaschutz aussieht, entpuppt sich als Instrument mit erheblicher Bürokratie. Hinzu kommt: Wenn sich alle Staaten an den gemeinsamen Zielen des Paris Abkommens orientieren, gerät die Logik der CO2-Kompensation an ihre Grenzen. Es zeigt sich, dass sich Art. 6 besser als Werkzeug einer ergebnisorientierten Klimafinanzierung eignet, statt zur Flexibilisierung bestehender Klimaschutzziele.
Zweitens gilt es, eine „slippery slope”-Dynamik zu verhindern. Der erhebliche Aufwand für eine Flexibilisierung von drei Prozent könnte – gemeinsam mit hohem politischem Druck – mittelfristig als Argument für weitere Öffnungen genutzt werden. Eine solche Entwicklung könnte neue Unsicherheiten erzeugen und Fehler aus der Vergangenheit wiederholen. Zwar ist die Erwartung berechtigt, dass Art. 6.4-Zertifikate robuster sein werden als frühere Zertifikate, aber ob sie die oben skizzierten Herausforderungen ausreichend adressieren, ist fraglich.
Drittens, wenn Deutschland und die EU als Käufer von Artikel 6 Zertifikaten auftreten sollten, muss das Prinzip der Ambitionssteigerung gewahrt werden (Art. 6.1). Praktisch erfordert das zum einen, dass bei der Entscheidung über das 2040-Ziel im EU-Klimaschutzgesetz das 2050-Ziel nicht aufgeweicht und die THG-Neutralität weiterhin innerhalb der Union angestrebt wird. Insbesondere Deutschland sollte – im Anschluss an seine Initiativen zum Art. 6 Kapazitätsaufbau – seine Rolle als „ehrlicher Makler” der globalen Kohlenstoffmärkte nicht für eine nur vermeintlich günstige Lösung eintauschen, die die inländische Dekarbonisierung langfristig verzögern könnte.
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