Standpunkte Mehr Bürgerenergie wagen

Die Energiewende braucht keinen Neustart, sondern mehr Bürgerenergie und Verlässlichkeit. Im Koalitionsvertrag finden sich dafür laut Martin Bialluch, Geschäftsführender Vorstand und Vorstandssprecher im Bündnis Bürgerenergie, einige gute Ansätze.
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Jetzt kostenfrei testenDer Mittelstand gilt als der entscheidende Faktor für Wachstum und Wohlstand einer Volkswirtschaft. Die Bürgerenergie nimmt als Mittelstand der Zukunftsbranche der Erneuerbaren Energien diese wichtige Rolle ein. Manche Genossenschaften haben inzwischen so viele Mitglieder wie eine mittelgroße Stadt und gelten den Umsätzen zufolge als Großunternehmen.
Rund 40 Prozent der installierten Leistung zur Erzeugung von Erneuerbaren Energien befinden sich in Bürgerhand. Bürgerinnen und Bürger mobilisieren beträchtliches privates Kapital, stärken die Wirtschaft im ländlichen Raum, reduzieren die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffimporten und steigern die Akzeptanz von Wind- und Solaranlagen vor Ort.
Um dieses Potenzial der Bürgerenergie für eine bezahlbare, sichere und saubere Energieversorgung und damit für die Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland in einer weltpolitisch schwierigen Lage zu nutzen, muss die kommende Bundesregierung die passenden Rahmenbedingungen für die Bürgerenergie zu schaffen.
Um die Ausgestaltung dieser politischen Rahmenbedingungen wurde in den vergangenen Wochen nicht nur hinter verschlossenen Türen in den jeweiligen Parteizentralen und der Bayerischen Landesvertretung, sondern auch in Medien und Öffentlichkeit gerungen. Die Koalitionsverhandlungen wurden von massiver Lobbyarbeit der großen Energiekonzerne begleitet.
Sie fordern einen „Neustart“ der Energiewende, wollen aber damit tatsächlich den Ausbau der Erneuerbaren Energie ausbremsen. Mit reduzierten Strombedarfsprognosen wird Politik und Öffentlichkeit eine effizientere und kostengünstigere Energiewende versprochen. Man müsse nur einen Gang runterschalten und mit den Ausbauzielen nicht übertreiben. Es geht Eon und RWE jedoch darum, die Lebenszeit der eigenen Geschäftsmodelle - die gute alte Zeit der fossilen Großkraftwerke – so weit wie möglich auszudehnen.
Doch die Geschäftsinteressen mancher Unternehmen decken sich eben nicht zwangsläufig mit den gesamtgesellschaftlichen Interessen. Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger wird aus dieser Perspektive als entbehrlich oder sogar schädlich gesehen. Aus Sicht des Bündnis Bürgerenergie ist besonders ärgerlich, dass der Verband kommunaler Unternehmen e. V. (VKU) in den Neustart-Chor von Eon und RWE eingestimmt und gefordert hat, die Förderung von Photovoltaik-Dachanlagen und alle Sonderregelungen für Bürgerenergieprojekte abzuschaffen.
Das Bündnis Bürgerenergie lehnt diese Vorschläge entschieden ab. Kommunale Unternehmen und Bürgerenergiegemeinschaften sind beides wichtige Akteure im Team Energiewende, die sich gut ergänzen und zusammenzuarbeiten sollten, statt sich als Konkurrenten zu betrachten.
Kurs halten bei der Energiewende
Wir brauchen also keinen angeblichen „Neustart“, sondern wir müssen Kurs und Tempo bei der Energiewende halten und die Menschen mit ins Boot holen - also mehr und nicht weniger Bürgerenergie wagen. Umso erfreulicher ist es daher, dass es der „Neustart“ nicht in den Energieteil des Koalitionsvertrags von Union und SPD geschafft hat, dafür aber die Bürgerenergie und einige unserer zentralen Forderungen - allerdings aller Kürze: „Bei der Energiewende machen wir Wirtschaft und Verbraucher stärker zu Mitgestaltern (u. a. durch Entbürokratisierung, Mieterstrom, Bürgerenergie und Energy Sharing). Wir wollen alle Potenziale der Erneuerbaren Energien nutzen.“
Soweit, so gut, denn hinter diesen Begriffen stecken wichtige Lösungsansätze für die Herausforderungen der Energiewende. Energy Sharing, die gemeinsame Nutzung von gemeinschaftlich erzeugtem Strom in der Nachbarschaft oder in der Region, kann den Netzausbaubedarf und die damit verbunden Kosten senken. Außerdem fördert Energy Sharing einen flexiblen Stromverbrauch und die Digitalisierung und passt damit gut zum beschleunigten und vereinfachten Rollout von Smart Metern und dynamische Stromtarifen.
„Wir wollen private Haushalte zu Akteuren der eigenen Energieversorgung machen“, heißt es beim Thema Solarenergie und rückt die Bürgerinnen und Bürger als Akteure der Energiewende ins Zentrum. Welche „Anreize für eine netz- und systemdienliche Einspeisung“ geschaffen werden sollen und zu welchem Ergebnis die angekündigte Prüfung der neuen Bestimmungen für die Nullvergütung bei negativen Preisen und der Direktvermarktung werden wir in der Umsetzung begleiten.
Systembrüche vermeiden
Hinsichtlich des zukünftigen Investitionsrahmens für Erneuerbare Energien hätten wir uns aus Sicht der Bürgerenergie im Vertrag hingegen ein klares Bekenntnis gewünscht, dass harte Systembrüche vermieden werden. Der zukünftige Strommarkt muss so gestaltet werden, dass die Akteursvielfalt erhalten bleibt und auch kleinere und mittlere Akteure ausreichend Planungssicherheit haben.
Doch wie in etlichen anderen Punkten bleibt der Koalitionsvertrag auch in dieser entscheidenden Zukunftsfrage eher unkonkret, obwohl die kommende Regierung diese bereits in absehbarer Zeit treffen muss: „Wir wollen für den weiteren Hochlauf von Erneuerbaren und Speichern einen gesicherten Investitionsrahmen bei zugleich verstärkter Einbindung marktwirtschaftlicher Instrumente.“
Ein großes Potenzial der Bürgerenergie sehen wir zudem beim Thema Wärme. Weil es sich bei Wärmenetzen um lokale Monopole handelt, ist Bürgerenergie das perfekte Modell, um Bürger und Bürgerinnen an Planung und Betrieb zu beteiligen und Kapital zu mobilisieren. Bürgerenergie kann deshalb angesichts der beschränkten finanziellen und personellen Ressourcen der Kommunen einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der kommunalen Wärmeplanung leisten.
Es finden sich aus Perspektive der Bürgerenergie einige vielversprechende Punkte im Koalitionsvertrag. Es bleibt zu hoffen, dass bei der konkreten Umsetzung nicht noch so manches davon auf der Strecke bleibt. Wir werden die künftige Bundesregierung dabei konstruktiv begleiten.
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