Im Gegensatz zu den USA ist für die Europäische Union das Pariser Klimaabkommen und die damit einhergehende Notwendigkeit, die Energieversorgung schnellstmöglich auf erneuerbare Energietechnologien umzustellen, nach wie vor unbestritten. Doch gerade bei hochrelevanten Zukunftstechnologien wie Solar- und Windenergie sowie bei kritischen und strategischen Rohstoffen, wie z.B. für den Ausbau von Stromnetzen, droht die europäische Gemeinschaft weiter vom Ausland abhängig zu bleiben.
Während sich die heimische Windindustrie, wenn auch unter starkem Druck, noch immer behauptet, ist die europäische Solarindustrie mittlerweile, nach Jahren des beherzten Engagements in einem ungleichen Wettbewerb, stark dezimiert, von der massiven Rohstoffimportabhängigkeit der EU ganz zu schweigen. Rückwärtsgewandten Initiativen aus dem Weißen Haus muss die EU mit einem stärkeren, europäischen Einsatz für Zukunftsindustrien zu begegnen. Gleichzeitig ist die EU in großem Maße auf Importe von Rohstoffen, Technologiekomponenten und -produkten aus Fernost angewiesen.
Neben der hohen Anfälligkeit solch einseitiger Lieferkettenbeziehungen, z.B. gegenüber geopolitischen Erschütterungen, besteht außerdem das Risiko massiver Verletzungen von Umwelt- und Menschenrechten im Zuge der Rohstoffbereitstellung für und der Produktion von Zukunftstechnologien.
Vor diesem Hintergrund muss die EU handeln, sowohl in Form einer koordinierten, politischen Initiative zur Befähigung der eigenen Zukunftsindustrien sowie zur Absicherung von Umwelt- und Sozialstandards beim Bezug von Waren aus dem Ausland. Nur so lässt sich die nötigte Souveränität für die Transformation zurückgewinnen und die europäische Glaubwürdigkeit als Fürsprecher von Umweltschutz und Menschenrechten bewahren.
Die Netto-Null-Industrie Verordnung (NZIA) als auch das europäische Lieferkettengesetz (CSDDD) repräsentieren zwei der dahingehend wegweisendsten Vorstöße der Staatengemeinschaft aus dem letzten Jahr – ihre Wirkung konnten beide bis heute nicht entfalten. Was es jetzt braucht, um diese durchaus zielgerichteten Initiativen der EU maximal zu pushen, hat die Deutsche Umwelthilfe e.V. im Rahmen eines Policy Paper von der politischen Beratungsagentur „The Goodforces“ analysieren lassen.
Finanzierungslücke des NZIA schließen
Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung ist: Der Entbürokratisierungsansatz des NZIA reicht nicht aus, um das notwendige Maß an industriepolitischer Dynamik in Europa zu entfalten – es braucht ein klares, finanzielles Bekenntnis der EU, um den Produktionsstandort Europa bei Zukunftsindustrien wettbewerbsfähig aufzustellen.
Hohe Energie- und Arbeitskosten sowie Schwierigkeiten bei der Kommerzialisierung von Innovationen sind nicht die Folgen einer überbordenden Bürokratie, sondern das Symptom fehlender Investitionen in die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Die klimaneutrale Aufstellung eines ganzen Kontinents im Zuge einer Generation lässt sich nicht bewerkstelligen ohne ein konzertiertes Vorgehen aller Beteiligten im Kontext eines gemeinsamen Handlungsrahmens.
Europa muss jetzt Einigkeit beweisen, die Stärken des Binnenmarktes entfesseln, Synergien grenzübergreifender Produktionszentren und effektiver Arbeitsteilung herbeiführen und auf bewährte Zukunftstechnologien setzen. Der von der Europäischen Kommission angekündigte Clean Industrial Deal bietet hier die Gelegenheit die Finanzierungslücke des NZIA zu schließen und mit der Kraft von 27 Staaten großflächig in die zentralen Technologiefelder der Zukunft zu investieren.
Lieferkettenstandards als strategischer Vorteil
Ein weiteres Ergebnis der Analyse ist die konsequente Etablierung und Durchsetzung von Lieferkettenstandards. Das Engagement für Umwelt- und Menschenrechte besitzt multilaterale Legitimität und gesamtgesellschaftliche Anerkennung, wenn ein solches Engagement auch zu tatsächlichen, lokalen Verbesserungen führt. Dazu muss die europäische Gemeinschaft nicht nur ihre eigenen Ansprüche an Lieferkettenstandards formulieren, sondern auch zur aktiven Durchsetzung im In- und Ausland beitragen.
Wenn Lieferkettenstandards einen Mehrwert für die lokale Bevölkerung darstellen, tragen sie zur Sicherung von Lieferbeziehungen bei. Gleichzeitig werden Wettbewerbsverzerrungen auf Kosten von Menschen und Umwelt effektiv bekämpft. Ohne eine effektive Durchsetzung von Standards verstärken diese bestehende Machtgefälle und erschweren den Handel mit der EU.
Insbesondere im Vergleich zu unberechenbaren Akteuren wie den USA und China – die zunehmend ihre Handelsbündnisse durch protektionistische und aggressive Maßnahmen aufs Spiel setzen – kann sich die EU jetzt mit einem aktiven Engagement für Lieferkettenstandards als glaubwürdiger Partner auf Augenhöhe profilieren und Handelsbeziehungen diversifizieren. Die entsprechend schnelle und ambitionierte Umsetzung der CSDDD in den EU-Mitgliedstaaten sowie die dahingehende Befähigung des EU-Auslands sind, parallel zur Ertüchtigung der europäischen Zukunftsindustrien, essenzielle Investitionen für ein wettbewerbsfähiges, wertegeleitetes und klimaneutrales Europa.
Die Zeit ist längst überfällig: Für uns als europäische Gemeinschaft müssen wir eine dauerhafte Führungsrolle im globalen Engagement für Klimaschutz im Einklang mit Umwelt- und Menschenrechten einnehmen! Die europäische Innovationslandschaft bei Zukunftstechnologien ist weltweit führend und doch entstehen die industriellen Produktionszentren der Zukunft vor allem im Ausland.
Die klimapolitischen Zielsetzungen der EU sind maßgebend und doch zögern wir, die dafür notwendigen Maßnahmen gesamtgesellschaftlich auf den Weg zu bringen. Das europäische Bekenntnis zu Umweltschutz und Menschenrechten ist beständig und doch in Verruf geraten. Mit den hier dargelegten Befähigungen des NZIA und der CSDDD können all diese Widersprüche aufgelöst und in eine kohärente, strategische Agenda überführt werden – wir, die europäische Gemeinschaft, müssen uns jetzt nur ein für alle Mal dazu entschließen.
Sascha Müller-Kraenner ist Geschäftsführer bei der Deutschen Umwelthilfe e.V.