Nun ist es also soweit: 62 deutsche Großprojekte mit 73 Unternehmen hat die Bundesregierung im Rahmen des europäischen IPCEI-Wasserstoffprojekts für den Start in die Wasserstoffwirtschaft ausgewählt. Aus über 230 Einreichungen, was gleichermaßen Interesse wie Potenzial aufzeigt. Insgesamt geht es um acht Milliarden Euro Fördergelder und 33 Milliarden Investitionsvolumen. Es wird noch etwas dauern, bis alle Unternehmen ihre finalen Förderbescheide in der Hand haben, aber ein Jahr nach Vorlage der Nationalen Wasserstoffstrategie kann man sagen: Es tut sich was.
In der gegenwärtigen Debatte liegt der Fokus auf dem Hochlauf eines idealerweise globalen Wasserstoffmarktes. Das ist einerseits gut, denn Wasserstoff und seine Derivative werden gebraucht und die Herausforderungen sind groß. Anderes allerdings kommt dabei zu kurz und das ist besorgniserregend. Denn klar ist auch, in dieser Dekade wird Wasserstoff nur einen kleinen Beitrag zur Zielerreichung leisten können. Diese Dekade muss mehr leisten. Zeit für einen Blick auf Felder, die nicht vernachlässigt werden dürfen.
Stromversorgung
Der Ausstieg aus der Kohle und vor allem auch der Ausbau der Photovoltaik wird in dieser Dekade massiv schneller vorankommen (müssen!) als noch vor Kurzem gedacht. Die 20er Jahre werden insgesamt einen massiven Elektrifizierungsschub erfahren. Das alles stellt erhebliche Anforderungen an das Stromsystem. Noch in der Kohlekommission wurde intensiv darüber diskutiert, wie die Versorgungssicherheit für das Gesamtsystem bei einem Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2038 gestaltet werden kann.
Nun wird alles viel schneller gehen. Was bedeutet das für die Verfügbarkeit von Systemdienstleistungen und gesicherter Leistung? Wie hoch ist der Bedarf an zusätzlichen Kraftwerkskapazitäten, die in Zukunft allesamt H2-ready sein müssen und welche Anforderungen stellt das an die Regulierung zur Allokation dieser Kraftwerke? Zu unklar sind gegenwärtig noch die zukünftigen Rahmenbedingungen für Investoren. Projekte müssen entwickelt, ausgeplant, genehmigt, zur Investitionsentscheidung geführt und dann noch gebaut werden. Das ist nicht unmöglich, aber es braucht eine klare Prioritätensetzung.
Infrastruktur
Der Weg zur Klimaneutralität wird nur über den Umbau der dafür erforderlichen Infrastrukturen gehen. Das betrifft große Infrastrukturprojekte auf Bundes- und Landesebene genauso wie die Planungen in den Kommunen. Beim Stromnetzbau auf Übertragungsebene sind uns die Probleme vertraut. Dass es Verzögerungen gibt, steht jetzt schon fest. Der aktuelle Netzentwicklungsplan ist auf das Jahr 2035 und im Vorausblick auch auf das Jahr 2040 ausgerichtet; die nötige Beschleunigung durch die neuen Klimaziele sind dort noch gar nicht abgebildet.
Auch die Anforderungen an den Umbau im Verkehrssektor sind in allen Szenarien ambitioniert. ÖPNV und Schienennetze müssen massiv ausgebaut werden. Wer aber jemals mitbekommen hat, wie sich Planungs- und Genehmigungsprozesse vor Ort gestalten, dem wird mulmig angesichts dessen, was im Bereich Infrastruktur angegangen werden muss. Die entsprechenden Planungs- und Bauprozesse stehen vor disruptiven Veränderungen. Das ist vielen bewusst, aber wie genau das geschehen soll, ist weiterhin offen. Hinzu kommt: Städte und Gemeinden müssen die Pläne umsetzen, sind aber häufig finanziell angeschlagen.
Arbeitskräfte
Millionen von Wärmepumpen, Elektrofahrzeugen, Speichersystemen, H2-ready-Technologien in allen möglichen Industrie-Sektoren müssen in den kommenden Jahren entwickelt, produziert, eingebaut und verkauft werden. Millionen von Gebäudesanierungen müssen getätigt, Leitungen und Infrastrukturen geplant, verlegt und installiert werden. Eines ist klar: Einen Mangel an Arbeit wird es nicht geben auf dem Weg zur Klimaneutralität! Eher einen Mangel an Fachkräften. Umschulungen, Fortbildungen und Qualifizierungen sind hier von zentraler Bedeutung, aber längst noch nicht ausreichend in die Wege geleitet. Qualifizierte Arbeitskräfte drohen zu einer bedrohlichen Restriktion für die Klimaschutzziele zu werden.
Marktdesign
Der aktuelle ökonomische Rahmen ist ungeeignet für den vor uns stehenden Umbau. Das gilt für die erforderliche Bepreisung von CO2 genauso wie für das Abgaben- und Umlagen-System. Über beides wird aber schon seit Jahren kontrovers diskutiert und die Vorstellungen gehen weit auseinander. Die Absenkung der EEG-Umlage auf null zum Abbau administrativer Hürden bei der Integrierten Energiewende ist in den Wahlprogrammen der Parteien erst für 2025 vorgesehen. Und über das richtige Maß für den zukünftigen CO2-Preis und die Lösung der damit verbundenen Umverteilungsproblematik gibt es jetzt schon Streit. Dabei ist der CO2-Preis längst noch nicht das Steuerungsinstrument, das sich viele wünschen.
Es ist zudem absehbar, dass die Zukunft mehr Bedarf an Flexibilität sowie an integrierten Konzepten vor Ort bringen wird. Intelligente Quartiere, lokale Communities und dezentrale Lösungen werden die Energiewende prägen müssen. Es fehlt aber ein Konsens über den richtigen marktlichen Rahmen für all das. Und das wiederum droht zu einer Innovationsbremse zu werden. Nicht einmal bei der scheinbar ewigen Diskussion um den Paragraf 14a und die Spitzenglättung im Stromnetz konnte man diesen Konflikt bislang lösen.
Industrie
Über die Transformation der Industrie wird intensiv diskutiert. Viele der oben erläuterten Punkte sind dabei unabdingbare (!) Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wirtschaftssystem in Deutschland. Industrievertreter mahnen das zunehmend lautstark an.
Aber Produktionsprozesse sind das eine, die dabei entstehenden Produkte und die Ressourcen auf denen sie beruhen das andere. Richtet man beides in Richtung Klimaneutralität aus, verändert das Wertschöpfungsketten und erfordert Leitmärkte für klimaneutrale Produkte und Kreislaufwirtschafts-Systeme, die es heute nicht einmal bei den Batterien für die viel gelobte Elektromobilität gibt. Diese wichtigen Entwicklungen hin zur Zielerreichung müssen politisch gut flankiert werden, ohne dass sich der Staat dabei finanzpolitisch übernimmt. Nur mit Förderung der nötigen Investitionen (Capex) wird das auf Dauer nicht erreichbar sein. Insbesondere gilt es die Absicherung der deutschen und europäischen Industrie im globalen Wettbewerb sicherzustellen und nebenbei noch die Frage zu beantworten, wie hoch denn der Industrie-Anteil am Bruttosozialprodukt in Deutschland zukünftig sein soll.
Fazit
Die Liste könnte man mit vielen weiteren, bisweilen sehr konkreten Punkten weiterführen.
Wir brauchen Wasserstoff, aber wir brauchen auch noch deutlich mehr als Wasserstoff. Es reicht nicht, Machbarkeiten und Pfade einfach zu postulieren. Stattdessen müssen ausreichend robuste Lösungen identifiziert und mit aller Kraft vorangetrieben werden. Mut zur Lücke in der Analyse und Leidenschaft für Innovation und Veränderung für die Zukunft, sollte die Losung lauten.
Dafür wiederum können drei Grundsätze des Handelns gelten. Erstens: Deutlich mehr Fokus auf Innovationen und deren Skalierung! Mehr Geld, weniger Bürokratie, mehr Geschwindigkeit, weniger Zaghaftigkeit. Das hat auch die Kanzlerin neulich gefordert. Zweitens: Die koordinierende Kraft von Marktwirtschaft und Preisen nutzbar machen. Mit ausreichender zeitlicher Perspektive, damit sich Kraft und Kreativität entfalten können. Und die dritte Voraussetzung für Erfolg bringt uns zurück zum Ausgangspunkt dieses Beitrags: Wir benötigen: alles. Auch den Aufbau einer disruptiven, globalen Wertschöpfungskette für Wasserstoff und seine Derivate.