Überfordert Klimaschutz Deutschlands Demokratie? Ist Demokratie für richtigen Klimaschutz zu langsam? Sind Lobbygruppen zu stark? Muss Demokratie sich also neu definieren? Wenn sich alles ändern muss, gilt dies nicht auch für Deutschlands Demokratie?
Die Diskussion dieser Fragen ist noch diffus, unterschwellig und richtungslos. Aber in der lauter werdenden Debatte zeichnen sich einige Untiefen ab. Damit Demokratie und Klimaschutz nicht an diesen stranden, müssen sie genau vermessen werden.
In einer Demokratie bestimmen Mehrheiten. Dies ist einer ihrer Wesenszüge. Aber in der Debatte gibt es hier eine Untiefe. Sind nicht Mehrheiten für den real existierenden, sprich unzureichenden Klimaschutz verantwortlich? Ist die Ablehnung des Schweizer CO2-Gesetzes in einer Volksabstimmung nicht ein gutes Beispiel für die Unzulänglichkeiten von Mehrheiten? Ist die öffentliche Meinung in Deutschland nicht auch ein Wackelkandidat: Viel Zustimmung für Klimaschutz im Großen, aber Ablehnung von Maßnahmen im Konkreten? Muss es nicht einen Primat des Klimaschutzes jenseits von Mehrheiten geben, weil die Klimakrise unsere Lebensgrundlagen bedroht und keinen Aufschub gewährt?
Diese Untiefe hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zum Klimaschutzgesetz vermessen. In einer Demokratie sind Mehrheiten zwar maßgebend, aber sie können nicht alles beschließen. Dies gilt etwa für Minderheitenrechte, den Schutz der Menschenwürde oder das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, aber seit dem Beschluss zum Klimaschutzgesetz gilt dies auch für Klimaschutz: das Grundgesetz verpflichtet den Staat zu Klimaschutz. Dies zielt auf die Herstellung von Klimaneutralität. Keine Generation dürfe große Teile des CO2-Budgets verbrauchen, wenn damit nachfolgenden Generationen radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde. Nur in diesem Rahmen können Mehrheiten entscheiden.
Bürgerräte sind keine Ersatzparlamente
Eine zweite Untiefe betrifft die sogenannte deliberative Welle. Damit sind die vielen Bürgerräte zu Klimaschutz und anderen Themen gemeint. Bürgerräte sind repräsentative, per Los zusammengestellte Bürgerversammlungen, die bestimmte Themen diskutieren und Empfehlungen für die Politik erarbeiten. Für manche sind Bürgerräte ein revolutionärer Moment, der Demokratie neu erfinden kann. Anders als Parlamente bilden sie besser die öffentliche Meinung ab und ermöglichen echte Bürgerbeteiligung.
Bürgerräte können in der Tat auf einzigartige Weise Ideen zur Diskussion stellen und Politikern Feedback geben. Sie können helfen, Gesellschaften zu mobilisieren, neue Bündnisse zu schmieden und Brücken zwischen unterschiedlichen Gruppen zu bauen – gerade auch für Klimaschutz.
Aber ihre Rolle im politischen Prozess muss allen klar sein. Bürgerräte sind Beratungsgremien, keine Ersatzparlamente. Ohne demokratische Legitimität können sie keine Entscheidungen treffen. Es ist also legitim, wenn Parlamente und Regierungen die Empfehlungen von Bürgerräten nicht umsetzen. Das ist Teil des Spiels. Aber dieser Teil des Spiels wird schnell übersehen: Werden Empfehlungen von Bürgerräten nicht umgesetzt, steht der Vorwurf im Raum, „die Politik“ habe das Volk ignoriert und sei abgehoben.
In der Debatte um Bürgerräte entsteht zudem der Eindruck, repräsentative Demokratie lasse keine ausreichende Bürgerbeteiligung zu. Entsprechend kommen politische Parteien in dieser Diskussion kaum vor – obwohl sie ein Paradebespiel für deliberative Demokratie sind: Mitglieder – sprich BürgerInnen – diskutieren Themen und erarbeiten in Wahl- oder Parteiprogrammen Empfehlungen für den politischen Prozess. Anstatt diese Arbeit von BürgerInnen anzuerkennen, gibt es in der Debatte eher Naserümpfen über parteipolitische Ränkespiele und Machtstreben. Die Schwächen der Bürgerbeteiligung in Parteien wird in den Mittelpunkt der Debatte gestellt, aber ihre Potentiale bleiben unberücksichtigt.
Das Bild einer allmächtigen fossilen Lobby ist schief
Der Einfluss von Lobbygruppen auf Klimapolitik ist eine weitere Untiefe in der Debatte. Mächtige Lobbygruppen machen den politischen Prozess zu ihrem Gefangenen und unterlaufen echten Klimaschutz – so das Bild.
Es gibt viele Beispiele klimapolitisch sehr problematischer Einflussnahme durch einzelne Firmen und fehlender Waffengleichheit. Aber das Bild einer allmächtigen fossilen Lobby ist schief. Es suggeriert, dass nur fossile Lobbygruppen quasi zwangsläufig zum Zuge kommen. Tatsächlich gibt es starke Gegenspieler. Insgesamt setzen Interessen sich aber am ehesten durch, wenn sie Mehrheiten organisieren können und die öffentliche Meinung auf ihre Seite ziehen.
Die Verabschiedung des überarbeiteten Klimaschutzgesetzes ist ein Beispiel für die Allmacht der öffentlichen Meinung und die relative Ohnmacht von Lobbygruppen: Angetrieben von einer immer drängender werdenden Klimakrise, einem breiten gesellschaftlichen Bündnis und dem beginnenden Bundestagswahlkampf gab es keinen Zweifel, dass die Mehrheit ein strengeres Klimaschutzgesetz und höhere Klimaziele wollte. Die öffentliche Meinung war gekippt. In Rekordzeit wurde das Klimaschutzgesetz überarbeitet. Bis vor kurzem noch deutlich hörbare Einwände von Einzelinteressen wurden zu einem kaum wahrnehmbaren Hintergrundgemurmel.
Die klimapolitischen Erfolge der Zeit haben deutlich gemacht, dass es vor allem darum geht, Mehrheiten für den notwendigen Klimaschutz zu gewinnen. Straße und Meinungsumschwünge wirken. Auch andere große politische Änderungen in der Geschichte der Bundesrepublik – wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, gesellschaftliche Liberalisierung, oder der Atomausstieg – haben deutlich gezeigt, dass es weniger um Änderungen im intentionellen Gefüge von Demokratie geht, sondern mehr um Mehrheiten. Mit diesen ist fast alles möglich – auch Dinge, die bis vor kurzem kaum denkbar erschienen.
Dies heißt nicht auf Geduld und langen Atem zu setzen – angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise offensichtlich keine Option –, aber es bedeutet, dass Mehrheiten schnell von Maßnahmen für drastische Emissionsreduktionen überzeugt werden müssen. Mit diesem Verständnis können die Untiefen der Debatte umschifft werden.
Nils Meyer-Ohlendorf ist Senior Fellow beim Ecologic Institute und leitet das International and European Governance Program.