Standpunkte Strohfeuer oder Startschuss für zukunftsfähige Wirtschaft?

Für den langjährigen finanzpolitischen Oberlehrer der EU dürften jetzt keine Ausnahmen gemacht werden, fordert Ingmar Jürgens, Gründer und Geschäftsführer der Berliner Denkfabrik Climate and Company, angesichts des vom Bundeskabinett beschlossenen Haushaltspakets für dieses Jahr. Es gehe jetzt darum, in eine nachhaltige und resiliente Wirtschaft zu investieren – und nicht das Geld aus den Sondervermögen für Infrastruktur und Klima mit Förderungen fossiler Brennstoffe zu verheizen.
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Jetzt kostenfrei testenEs klingt alles so gut: 500 Milliarden Euro für Deutschlands Zukunft, eine gewaltige Summe. Doch gerade, weil es um so viel geht, frage ich mich: Wird das Sondervermögen „Infrastruktur und Klimaneutralität“ ein mutiger Impuls für Transformation und Wettbewerbsfähigkeit – oder ein schuldenfinanziertes Strohfeuer ohne Richtung?
Dem gestern vom Bundeskabinett beschlossenen Gesetzesentwurf fehlt es in dreierlei Hinsicht: an Konformität mit wichtigen Rechtsnormen; an einer klaren Wirkungssteuerung und -messung; und an der industriepolitischen Vision.
1. Konformität mit wichtigen Rechtsnormen: Keine Ausnahme für den „Oberlehrer“
Die Einhaltung verfassungs- und europarechtlicher Normen ist kein bürokratisches Hindernis, sondern Voraussetzung für die Legitimität, aber auch der Rechtssicherheit des Vorhabens. Juristische Analysen (Günther et al., Schlichter) zeigen klar auf: In dieser Form wird das Sondervermögen dem Verfassungsziel Klimaschutz nicht gerecht, insbesondere durch die vorgesehene Zweckentfremdung für Subventionen von Strom- und Gaspreisen.
Denn durch das gestern verabschiedete Haushaltsbegleitgesetz und das Klima- und Transformationsfondsgesetz (KTFG) können bis zu 100 Milliarden Euro für kurzfristige Entlastungsmaßnahmen statt für langfristige Klimainvestitionen verwendet werden. Das ist nicht nur rechtlich riskant – es untergräbt das Vertrauen: In die Ernsthaftigkeit der deutschen Klimapolitik, und in die gemeinsamen fiskalpolitischen Regeln, die sich die Eurozonenländer, unter Federführung Deutschlands, für ihre gemeinsame Währungszone gegeben haben.
Abweichungen vom sogenannten Stabipakt waren lange mit Deutschland nicht zu machen, viele in Europa sahen in Deutschland den haushaltspolitischen Oberlehrer. Inmitten der tiefsten Wirtschafts- und Schuldenkrise Europas seit der großen Depression tolerierte man eine Flexibilisierung des Pakts für investive, wachstumsfördernde Ausgaben von EU-Mitgliedsstaaten.
Indem sie klimaschädliche Ausgleichszahlungen für Strom- und Gaspreise und damit nicht-investive Ausgaben, zulässt – und das absurderweise gerade für den Klima- und Transformationsfonds (KTF) – wirft die Bundesregierung diese seinerzeit von ihr selbst propagierte Einschränkung auf investive Ausgaben jetzt über Bord.
Fun fact für die Eurozonen-Nerds: der mittelfristige strukturelle finanzpolitische Plan Deutschlands, der einen genehmigungspflichtigen siebenjährigen fiskalischen Anpassungspfad vorsieht, liegt gerade in Brüssel zur Genehmigung bei der Generaldirektion ECFIN und damit mindestens implizit auch das Sondervermögen. Ob man sich die Europäische Kommission unter Leitung ihrer deutschen Präsidentin trauen wird, der Bundesregierung in die Suppe zu spucken?
2. Leitplanken für eine starke, innovative und zukunftsfähige Infrastruktur und Wirtschaft
Investitionen in Infrastruktur sind nur dann nachhaltig, wenn sie durchdacht gesteuert werden. Das bedeutet nicht mehr Bürokratie, sondern: klare Auswahlkriterien, Zielorientierung und transparente Wirkungsmessung. Das ist im privaten Sektor längst Standard – und auch auf europäischer Ebene vielfach erprobt: Invest EU, der Just Transition Fund und die Recovery and Resilience Facility sind EU-Finanzinstrumente, die gezielt Investitionen in den grünen Wandel, den sozialen Ausgleich und die wirtschaftliche Erholung fördern, setzen längst auf Ausschluss- und Positivkriterien. Warum sollte Deutschland schlechter arbeiten als Brüssel?
Einige Vorschläge liegen auf dem Tisch: kein Geld für fossile Infrastruktur, keine Straßenneubauten oder Häuser mit Effizienzhaus-55-Standard, keine Energiepreis-Subventionen. Dafür gezielte Förderung von Gebäudesanierung, Wärmenetzen, ÖPNV, grünem Stahl und zukunftsfähigen Produktionsstandards.
Entscheidend bei allem, was als Klimafinanzierung deklariert wird, ist das Prinzip der Zusätzlichkeit: Gefördert werden darf nur, was ohne das Sondervermögen nicht ohnehin passiert wäre. Alles andere wäre ein Etikettenschwindel.
Und vielleicht am wichtigsten in Zeiten, wo wir Bürokratieaufwand endlich ernst nehmen müssen: Die Ansätze für Wirkungsmessung und Zielorientierung und ihre Umsetzung sind lange erprobt und mit minimalem Erfüllungsaufwand verbunden.
3. Industriepolitik der Zukunft – jetzt!
Deutschland hat mit diesem Sondervermögen die Chance, der Industrie der Zukunft ein starkes Nachfragesignal zu senden. Ob grüner Stahl, emissionsarmer Zement oder recycelte Baumaterialien – unsere Unternehmen brauchen Investitionssicherheit. Nur wenn die öffentliche Hand konsequent nachhaltige Materialien und Technologien nachfragt, werden private Investitionen in grüne Produktionskapazitäten angestoßen.Die Stimmen aus der Industrie sind eindeutig:
- Strabag, einer der größten Baukonzerne Europas, fordert grüne öffentliche Beschaffung, um den CO₂-Fußabdruck ihrer Projekte zu reduzieren.
- Aurubis arbeitet an grünem Kupfer, Heidelberg Materials an CO2-freiem Zement.
- Die Wirtschaftsvereinigung Stahl warnt: Nur wenn das Sondervermögen mit klimapolitischen und wirtschaftlichen Zielen verknüpft wird, entsteht ein echter Impuls. Für all die klugen Köpfe und Unternehmer:innen, die seit Jahren an innovativen Lösungen arbeiten und versuchen, oftmals unter erheblichen Investitionsrisiken, diese Innovationen in den Markt zu bringen.
Was bleibt?
Wollen wir später zurückblicken auf eine verpasste Chance – auf kurzfristige Subventionen ohne Richtung?
Oder erinnern wir uns an den Moment, in dem Deutschland die Weichen stellte für eine strategische Industriepolitik, die Klimaschutz, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit vereint?
Im Bundestag und Bundesrat ist noch Zeit, das Sondervermögen zu einem echten Wendepunkt zu machen. Ich appelliere jetzt an die Bundestagsabgeordneten diese historische Chance zu nutzen und die Leitplanken richtig zu setzen.
Ich schreibe diesen Text nicht als Mahner, sondern als jemand, der seit Jahren an der Schnittstelle zwischen Klima, Industriepolitik und Investitionssteuerung arbeitet. Mir liegt daran, dass Investitionen strategisch, rechtssicher und wirkungsvoll eingesetzt werden – für all die wunderbaren Menschen und Unternehmen in diesem Land, die den Glauben an eine zukunftsfähige, wettbewerbsfähige Wirtschaft im Rahmen planetarer Grenzen noch nicht aufgegeben haben.
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