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Standpunkte Chance für professionelle Gesetzgebung

Franz Knieps
Franz Knieps, Vorstandsvorsitzender des BKK Dachverbands Foto: BKK Dachverband

Als einer der wichtigsten Berater der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) kennt der scheidende Vorstandschef des BKK Dachverband, Franz Knieps, die Fallstricke beim Ziel, das Sozialgesetzbuch zu entschlacken. Der nächsten Ressortchefin, der Juristin Nina Warken, traut Knieps in dieser Hinsicht einiges zu, wie er im Standpunkt schreibt. Es sei Zeit für das Schlachten heiliger Kühe.

von Franz Knieps

veröffentlicht am 30.04.2025

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Jetzt werden alle Interessenvertreter des Gesundheitswesens zur Berliner Mauerstraße pilgern, um der neuen Bundesgesundheitsministerin ihre Aufwartung zu machen und zu versuchen, sie von der Bedeutung ihrer Vorschläge und Forderungen zu überzeugen. Das ist legitim und politischer Alltag, wenn man nicht gerade wie der scheidende Minister Karl Lauterbach (SPD) Kommunikation nur auf professoraler Ebene führt. Bedauerlich ist aber, dass die Allermeisten in der Prozession für noch mehr Vorschriften eintreten statt endlich das Gesundheitsrecht zu entschlacken sowie weniger und abstraktere Regulierung zu fordern. Hierfür sprechen sich allenfalls einige Juristinnen und Juristen aus – wie zum Beispiel die Arbeitsgruppe „Neustart Gesundheitsrecht!“ der Robert Bosch Stiftung. Gute Gesetzgebung und zurückhaltende Regulierung haben halt kaum eine durchsetzungsstarke Lobby und fallen der Hektik des Gesetzgebungsalltags immer als Erstes zum Opfer.

Dem könnte die Ernennung einer profilierten Verwaltungsrechtlerin zur neuen Ministerin entgegenwirken, die zudem als Parlamentarische Geschäftsführerin langjährige Erfahrung in parlamentarischen Prozessen mitbringt. Sie könnte eine realistische Vorhabenplanung über die Halbwertszeit von Ankündigungen per Tweet hinaus in Gang setzen und nachvollziehbare Prioritäten für eine ganze Legislaturperiode festlegen. Nina Warken (CDU) könnte der unseligen Praxis ein Ende setzen, Gesetzentwürfe ohne Abstimmung in der Regierungskoalition und mit den Bundesländern in das Parlament einzubringen und dann permanent Änderungsanträge nachzuschieben, die nicht selten im Volumen den ursprünglichen Entwurfstext übertreffen – obwohl das Bundesverfassungsgericht der vergangenen Parlamentsmehrheit kritische Worte zu den extrem kurzen Beratungsfristen nach Änderungseingriffen ins Stammbuch geschrieben hat, die nicht selten auf nächtliche Einigungen in der Spitzenrunde der Partei- und Fraktionsvorsitzenden zurückgehen.

Davon hat sich bisher wenig in der konkreten Parlamentsarbeit im Bereich der Gesundheitspolitik niedergeschlagen. Eine solide Abstimmung und eine verlässliche Kommunikation könnte der oft kritisierten „Gesetzgebung auf dem Flur“ den Garaus bereiten.

Viele Beispiele für ineffektive Überregulierung

Auch inhaltlich muss sich an der Entwicklung des Gesundheitsrechts vieles ändern. Sowohl Regulierungsdichte aus auch Regulierungstiefe müssen deutlich zurückgenommen werden. Beispielhaft wird immer wieder auf die völlig unverständlichen Vorgaben für die Bemessung der vertragsärztlichen Vergütung in den §§ 85 ff. SGB V verwiesen. Wer diese versteht, könnte als Kandidat für die Nobelpreise für Medizin oder Wirtschaftswissenschaften in Betracht kommen. Aber auch die zahlreichen Versuche, die Sektorentrennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu überwinden, sind Beispiele für ineffektive Überregulierung.

Statt einer klaren Zielformulierung verlieren sich die einzelnen Bestimmungen in Detailgenauigkeit, die mehr Probleme schafft als tatsächlich löst. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen – so zum Beispiel widersprüchliche Vorgaben für die Preisfestsetzung von Arzneimitteln, Bemessung der Vorhaltevergütung bei der Krankenhausfinanzierung und vieles mehr. Selbst ein so klares Ziel wie die Entbudgetierung der hausärztlichen Vergütung erstreckt sich über mehrere Paragraphen. Es wird endlich Zeit, dass sich die Regulierung im Gesundheitswesen auf die generell-abstrakte Ebene zurückzieht und die Ausfüllung der Details entweder der (gemeinsamen) Selbstverwaltung oder wettbewerblichen Prozessen auf der einzelwirtschaftlichen Ebene überlässt.

Kongruenz von Aufgabenzuweisung und Verantwortung sollte die ordnungspolitische Leitlinie der neuen Administration lauten. Das gilt nicht nur für die handelnden Akteure, sondern auch für die Ministerien in Bund und Ländern. Hoffentlich hat eine Verwaltungsjuristin und engagierte Rechtsanwältin mehr Fingerspitzengefühl bei der Vermeidung von Lastenübertragungen von der öffentlichen Hand auf die Beitragszahlenden als die früheren Minister. Utopie wäre es, davon zu träumen, dass im Wege der avisierten Staatsmodernisierung den Trägern der Sozialversicherung ein Klagerecht einschließlich des Zugangs zum Bundesverfassungsgericht gegen widerrechtliche Belastungen durch öffentliche Aufgaben zugestanden würde. Mit einem solchen Vorstoß würde Nina Warken bleibende Spuren in der Sozialrechtsgeschichte Deutschlands hinterlassen.

Kleinliche Aufsicht der Behörden in Bund und Ländern

Vor allem könnte die neue Bundesgesundheitsministerin ein Zeichen setzen, dass die Misstrauenskultur im Gesundheitswesen überwunden wird. Den Akteuren, speziell den Körperschaften des öffentlichen Rechts, sollte alles erlaubt sein, was nicht systemschädlich, diskriminierend oder ausdrücklich verboten ist. Damit sollte ein Innovationsschub ausgelöst werden, der nicht auf planwirtschaftliche Vorgaben aus Ministerien warten muss und einer kleinlichen Aufsicht durch Behörden des Bundes und der Ländern unterworfen wird. Generell sollte Aufsicht auf eine Rechtsaufsicht begrenzt sein. Das steht zwar schon so im Gesetz, die gelebte Praxis sieht anders aus.

Gesetze sollten Anpassungen an die Entwicklungen der äußeren Rahmenbedingungen (Demografie, soziale Verhältnisse, Ökonomie und Ökologie) und der inneren Verhältnisse (digitale Transformation, wissenschaftliche Erkenntnisse, medizinisch-technischer Fortschritt) ermöglichen und nicht Veränderungen be- oder verhindern. Leider hat sich in den Gesetzen der letzten zehn Jahre eher eine Ge- und Verbotskultur als eine Ermöglichungskultur durchgesetzt. Zur Wahrheit gehört dabei auch, dass sich viele Akteure im Bremserhäuschen des Fortschrittzugs bequem eingerichtet haben und rechtliche Möglichkeiten nicht hinreichend ausschöpfen.

Bitterer Teil der Wahrheit ist schließlich, dass rechtliche Möglichkeiten, institutionelle Ausprägungen und ökonomische Anreize nicht kongruent sind. So verfolgt die Politik seit Jahrzehnten das Ziel, Versorgungsstrukturen und -prozesse zu integrieren, Ressourcenverschwendung und Fehlbehandlungen insbesondere an den Schnittstellen zwischen den Versorgungssilos zu bekämpfen und die Outcomes der gesundheitlichen Versorgung zu verbessern, die im internationalen Vergleich allenfalls suboptimal sind. Solange aber die sektoralen Steuerungsinstrumente wie die Bestimmung der Kapazitäten, die Vergütung der Leistungen und die Ausrichtung der Qualitätssicherung weiterhin sektoral ausgestaltet sind, darf man sich über das Ausbleiben durchschlagender Erfolge nicht wundern.

Eine gute Juristin kann heilige Kühe schlachten

Der Verfasser ist kein Anhänger von Träumen und Illusionen. Auch wenn er sich wiederholt für die Schaffung eines neuen und zeitgerechten Sozialgesetzbuchs ausgesprochen hat, um etwa die Trennung von Kranken- und Pflegeversicherung zu überwinden, ist ihm klar, dass es politische Stürme und Herausforderungen derzeit nicht erlauben, ein vollständig neues Gesetzbuch zu zu erarbeiten. Er kennt die Aufwände, die ein solches Vorhaben mit sich bringen, aus eigener Anschauung bei der Übertragung von der Reichsversicherung aus der Kaiserzeit in das SGB V. Selbst die Übertragung der damals noch neuen Bestimmungen ins Beitrittsgebiet kostete Schweiß und nächtliche Überstunden.

Aber eine neue Koalition und eine (noch) gesundheitspolitisch nicht festgelegte Ministerin könnte Zeichen setzen. So könnten die Eingangsvorschriften des SGB V modernisiert werden, die Patientenzentrierung der Versorgung verankert werden und die digitale Versorgung der analogen gleichgestellt werden. Der integrierten Versorgung entlang von Patientenpfaden könnte endlich explizit der Vorrang vor der sektoralen Versorgung eingeräumt werden. Unnötige bürokratische Überprüfungen und Aufsichtsprüfungen könnten zurückgeschnitten werden. Heilige Kühe – wie der Direktzugang zur spezialisierten fachärztlichen Versorgung oder der Arztvorbehalt gegenüber anderen Gesundheitsberufen – könnten geschlachtet werden. All dies gibt der Koalitionsvertrag her. Man muss es nur wollen. Eine gute Juristin könnte das packen.

Franz Knieps ist Vorstandsvorsitzender des BKK-Dachverbands.

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