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Standpunkte Deutschland bleibt hinter progressiven Ankündigungen zurück

Heino Stöver, Professur für sozialwissenschaftliche Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences
Heino Stöver, Professur für sozialwissenschaftliche Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences Foto: privat

Wir brauchen eine strategische Richtungsänderung in der Drogen- und Suchtpolitik: Weg von Ideologie und dem Zielbild der sofortigen Abstinenz, hin zu funktionierenden Alternativen. Andere Länder machen uns das seit Jahren vor. Das gelingt uns aber nur, wenn die Politik risikoärmere Nikotinprodukte als wirkliche Alternative zur Tabakzigarette behandelt und konsequente Aufklärung betreibt. Die aktuelle Novellierung des Tabakerzeugnisgesetzes wäre dafür eine Chance, schreibt Heino Stöver.

von Heino Stöver

veröffentlicht am 15.02.2023

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Mehr als ein Drittel der Deutschen raucht, 127.000 sterben jährlich daran und die Volkswirtschaft erleidet einen Schaden von fast 100 Milliarden Euro im Jahr – eine ernüchternde Bilanz, betrachtet man alle Maßnahmen und Kampagnen, mit denen Raucher:innen vom Tabak weggebracht werden sollen. Auch laut der von der EU-geförderten “Tobacco Control Scale” liegt Deutschland bei der Tabakbekämpfung auf Platz 34 von 37. In Sachen europäischer Tabakkontrolle bleibt Deutschland somit weit zurück.

Wie kommt es, dass immer noch über ein Drittel der Deutschen regelmäßig zur Zigarette greift? Und warum reichen die bisherigen gesundheitspolitischen Maßnahmen nicht aus? Was kann eine mögliche Lösung sein? Grundsätzlich ist zu beobachten, dass die Rauchprävalenz vor der Coronapandemie relativ konstant bei circa 25 Prozent lag. Mit dem Aufkommen der Pandemie ließ sich eine deutliche Steigerung auf über 35 Prozent beobachten. Beobachter erklären dies zum einen mit gestiegenen psychischen Belastungen, zum anderen mit gesunkener sozialer Kontrolle während der Kontaktbeschränkungen. Die gesundheitspolitischen Appelle, Entwöhnungskampagnen, Steuererhöhungen und die ausgeweiteten (Werbe-) Verbote haben damit ihr Ziel, das Rauchen zu bekämpfen, nachweislich nicht erreicht. 

Ambitionierte Ziele, aber kein Konzept

Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, wie die ambitionierten Ziele der Bundesregierung – Senkung der Raucher:innenquote bis 2030 auf 19 Prozent und bis 2040 auf fünf Prozent – erreicht werden sollen. Ein “Weiter-So” in der Drogen- und Suchtpolitik wird kaum in der Lage sein, diese wichtigen und aus meiner Sicht erreichbaren Ziele umzusetzen.

Der Sucht- und Drogenbeauftragte hat Ende Januar 2023 zurecht festgestellt, dass es eines echten Paradigmenwechsels in diesem Politikfeld bedarf. In der Tabakkontrollpolitik braucht es daher eine Doppelstrategie: Bisherige Maßnahmen – wie die auch von Burkhard Blienert (SPD) richtigerweise erwähnten weiteren Werbebeschränkungen – müssen durch moderne Maßnahmen, die ihren Ursprung im allseits anerkannten Substitutionsgedanken haben, ergänzt werden. Den „Harm Reduction“-Ansatz in der deutschen Politik anzuerkennen, ist überfällig. Man trennt die Behandlung des Tabakkonsums vom Nikotinkonsum und priorisiert die Therapie des gesundheitlich deutlich bedenklicherem, nämlich des Verbrennens von Tabak beim Rauchen.

Alternative Nikotinprodukte zur schrittweisen Zigarettenentwöhnung 

Hierzu gibt es heutzutage eine ganze Palette an unterschiedlichen Produkten und Maßnahmen – von Kaugummis und Sprays bis hin zu Tabakerhitzern, E-Zigaretten oder Nikotinbeuteln. Vielfach wird diskutiert, inwiefern diese Produkte zur Senkung von tabakassoziierten Gesundheitsgefahren eingesetzt werden können. War die wissenschaftliche Studienlage lange Zeit umstritten, können wir es nun als erwiesen ansehen, dass diese Alternativen eine deutlich geringere Schadstoffexposition als Zigaretten haben. 

Die teilweise an Haptik und Gebrauchsweise an die Zigarette angelehnten Produkte können für Raucher:innen, die nicht aufhören wollen oder können, eine schadstoffreduzierte Konsumform von Nikotin darstellen. Aus der Praxis der Suchtforschung ist mittlerweile bekannt, dass Raucher:innen, die diese Produkte zur Zigarettenentwöhnung nutzen, in etwa doppelt so erfolgreich sind, wie Raucher:innen, die Kaugummis oder Sprays verwenden. Die Behandlung einer Nikotinabhängigkeit muss deshalb als Treppensteigen verstanden werden. Erst muss die Mehrheit der Patient:innen die erste Stufe erreichen, nämlich den Verzicht auf Tabakzigaretten bei weiterer Nikotinaufnahme mittels Produkten ohne Tabakverbrennung. Dann kann er oder sie sich an die zweite Stufe, die allumfassenden Nikotinabstinenz, wagen. 

Trotz des angemahnten Umdenkens in der Drogen- und Suchtpolitik durch den hierfür in der Bundesregierung Beauftragten scheut sich die Politik im Rahmen der Tabakkontrolle diesen Weg einzuschlagen. Das zeigt sich daran, dass in der heute zu verabschiedenden Novelle des Tabakerzeugnisgesetzes tabakfreie Nikotinbeutel trotz einer positiven Bewertung des Bundesinstituts für Risikobewertung nicht erlaubt werden sollen. 

Großbritannien und Schweden mit signifikanten Erfolgen

Länder, die einen anderen Weg gehen, konnten ihre Raucher:innenquoten bereits deutlich senken. In Schweden sind weniger schädliche Alternativen zum Rauchen erschwinglich und zugänglich. Dies hat zu einer der niedrigsten Raucher:innenquote in ganz Europa geführt (<6%).

Auch in Großbritannien wird aktiv und großflächig über risikoärmere Alternativen zur Zigarette informiert. In Kombination mit scharfen Restriktionen bei der Tabakzigarette sank die Raucher:innenquote auf 14 Prozent – damit ist sie nur halb so hoch wie in Deutschland.

Wir werden in Deutschland nur echte Fortschritte erzielen, wenn wir anerkennen, dass wir den Nikotinkonsum nicht vollständig unterbinden werden können. Was wir aber tun können, ist progressiv zu sein und evidenzbasiert die gesundheitlichen Auswirkungen des Rauchens zu reduzieren. Dazu gilt es, über diese Produkte aufzuklären und die Gesetze so auszugestalten, dass sich eine Lenkungswirkung hin zu weniger schädlichen Nikotinprodukten einstellt.

Viele meiner Kolleg:innen und ich wünschen uns daher einen wirklichen Paradigmenwechsel in der Drogen- und Suchtpolitik. Legalisierung von Cannabis und Drug Checking sind wichtige Schritte. Ein Umdenken braucht es aber vor dem Hintergrund der hohen Betroffenenzahlen vor allem in der Tabakkontrolle.

Das bedeutet im Klartext: Der Umstieg auf E-Zigaretten, Nikotinbeutel und Tabakerhitzer sollte als lebensweltnahe Beratung in die Aufklärungskampagnen der Gesundheitspolitik und Strategien der Suchtprävention aufgenommen werden und für Raucher:innen als echte Alternative möglich sein.

Prof. Dr. Heino Stöver leitet den Studiengang Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe an der Frankfurt University of Applied Sciences. Zudem ist er Geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung Frankfurt (ISFF).

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