Standpunkte Europa braucht eine Renaissance der Arzneimittelproduktion

Die Verlagerung der Arzneimittelproduktion zurück nach Europa ist kein Selbstzweck, sondern ein sicherheitspolitischer Imperativ. Doch sie wird nur gelingen, wenn Wirtschaftlichkeit, regulatorische Realität, technologische Innovation und politischer Gestaltungswille zusammengedacht werden, schreibt Nam Trung Nguyen von Atreus. Dazu gehört, dass Behörden sich als Partner der Industrie verstehen und Vergabepraxis und Rabattsysteme so reformiert werden, dass sie gezielt Resilienz fördern.
Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen
Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.
Jetzt kostenfrei testenDass Europa in der Arzneimittelversorgung zu abhängig von Produktionsstandorten in Asien ist, ist keine neue Erkenntnis. Die Fragilität globaler Lieferketten hat sich dabei infolge der Covid-Pandemie sowie aktueller geopolitischer Spannungen insbesondere auf dem Markt für Generika – der verantwortlich für rund 80 Prozent der verordneten Medikamente in Deutschland ist – dramatisch gezeigt. Trotzdem sind viele politische Reaktionen bislang fragmentiert, reaktiv und zu kurz gegriffen.
Was es jetzt braucht, ist kein kurzfristiges Krisenmanagement, sondern ein strukturierter Wiederaufbau industrieller Kompetenz in Europa. Das ist nicht nur eine industriepolitische Frage, sondern eine strategische Entscheidung für die Resilienz unserer Gesundheitsversorgung.
Produktionskapazitäten als kritische Infrastruktur
Die pharmazeutische Produktion muss regulatorisch als kritische Infrastruktur verstanden und behandelt werden – ähnlich wie Energie oder Telekommunikation. Nur so lassen sich systemrelevante Produktionskapazitäten strategisch absichern. Dazu gehört auch gezielte Diversifizierung: Europa sollte gezielt Produktionsnetzwerke aufbauen, etwa entlang regionaler Stärken – von APIs über Drug Products bis hin zu Verpackung und Logistik.
Ein europäischer Arzneimittel-Produktionsfonds – vergleichbar mit dem IPCEI-Ansatz aus der Halbleiterindustrie – könnte hier als koordinierender Hebel wirken. Notwendig ist ein strategischer Schulterschluss auf EU-Ebene: Fördermittel, Standortentscheidungen und regulatorische Harmonisierung gehören in eine gemeinsame europäische Hand, nicht in 27 Einzelzuständigkeiten. Die Schaffung einer langfristig wirtschaftlich attraktiven Umgebung ist insbesondere für Off-Patent-Arzneimittel zu empfehlen. Der Generikasektor wird seit Jahren durch aggressive Rabattverträge und Preisdruck systematisch wirtschaftlich ausgehöhlt.
Talent und Technologie sind bisher Engpässe
Kaum eine Branche hat derzeit größere Probleme, hochqualifiziertes Personal zu finden, als die Life-Sciences-Industrie. Wenn Europa als Produktionsregion zurückkehren will, braucht es vor allem qualifizierte Arbeitskräfte. Deshalb sollten gezielte Ausbildungsinitiativen aufgesetzt werden – idealerweise in Partnerschaft zwischen Industrie, Hochschulen und der öffentlichen Hand.
Gleichzeitig müssen technologische Innovationen – z. B. Robotik, 3D-Printing oder KI in der Produktionssteuerung – noch stärker in den Fokus kommen für eine effizientere Produktionslandschaft. Dafür braucht es aber auch passende Förderkulissen, beispielsweise im Rahmen des EU-Innovationsfonds.
Regulatorik verschlanken
Viele pharmazeutische Unternehmen in Europa berichten übereinstimmend: Nicht nur die Produktionskosten werden zum Standortnachteil, sondern auch langwierige Zulassungsverfahren für neue Produkte sowie Änderungsgenehmigungsprozesse.
Was gebraucht wird, ist eine effizientere europäische Zulassungs- und Aufsichtsstruktur mit einer klaren Priorisierung für versorgungskritische Produkte. Denkbar wäre ein „Fast Track“-Verfahren für Produktionsverlagerungen aus Drittstaaten nach Europa und/oder pragmatische und schlanke Genehmigungsverfahren für Umstellungen der Produktion von manuell auf automatisiert.
Ein zentraler Hebel für die Standortwahl liegt in der Haltung der Zulassungsbehörden. Diese müssen sich deutlich stärker als „Ermöglicher“ verstehen – als Partner, die wirtschaftliche Aktivität im Pharmabereich möglich machen, statt sie durch eine primär fehlerorientierte Prüfpraxis auszubremsen. Derzeit erleben viele Unternehmen in Deutschland die Behörden eher als Hindernis: Dass es anders geht, zeigen die Schweiz oder die USA. Dort agieren die zuständigen Stellen nicht weniger streng, aber deutlich kooperativer und unterstützen durch proaktive Beratung und klare Kommunikation die Produzenten.
Versorgungssicherheit systemisch denken
Solange die öffentliche Debatte auf die Symptome von Lieferengpässen fixiert bleibt – etwa auf fehlende Fiebersäfte oder Antibiotika – wird sich strukturell wenig ändern. Wir brauchen einen Wechsel in der Logik: Weg vom kurzfristigen Lückenfüllen, hin zur vorausschauenden Versorgungspolitik.
Reaktiv funktionierende Frühwarnsysteme werden die strukturellen Probleme der Arzneimittelversorgung nicht lösen. Entscheidend ist, die ökonomischen Anreize so zu gestalten, dass Lieferfähigkeit systemisch abgesichert wird. Die gegenwärtige Praxis, über exklusive Rabattverträge den günstigsten Anbieter zu bevorzugen, macht das System anfällig. Fällt dieser eine Hersteller aus, ist die Versorgung akut gefährdet.
Vergütungssysteme müssen vielmehr Resilienz belohnen – etwa durch Anreize für Mehrfachverträge mit mehreren Herstellern, auch wenn diese nicht das absolute Niedrigpreisniveau bieten. Nur durch eine breite wirtschaftliche Basis können Lieferengpässe langfristig vermieden werden. Versorgungssicherheit ist kein Nebenprodukt des Marktes – sie ist ein politisch steuerbares Ergebnis kluger Vergabeentscheidungen.
Schlussendlich muss bei Ausschreibungen das Kriterium Produktionsstandort noch stärker gewichtet werden. Ein Vorschlag: Generikapräparate haben lediglich einen Anteil der Arzneimittelausgaben von rund acht Prozent – bei einem Versorgungsanteil der Patienten von 80 Prozent. Eine Anpassung in der Verteilung des Ausgabenblocks der Krankenversicherungen zugunsten der Generikahersteller gepaart mit einer Standortbindung kann hier schnell Anreize schaffen, ohne zusätzliche Kosten im Gesundheitssystem zu verursachen.
Jetzt strategisch handeln
Die Verlagerung der Arzneimittelproduktion zurück nach Europa ist kein Selbstzweck, sondern ein sicherheitspolitischer Imperativ. Doch sie wird nur gelingen, wenn Wirtschaftlichkeit, regulatorische Realität, technologische Innovation und politischer Gestaltungswille zusammengedacht werden.
Dazu gehört auch, dass Behörden sich als Partner der Industrie verstehen – als gestaltende Instanzen. Und dass Vergabepraxis und Rabattsysteme so reformiert werden, dass sie nicht länger Abhängigkeiten zementieren, sondern gezielt Resilienz fördern. Frühwarnsysteme können dabei höchstens flankierend wirken – die strukturellen Ursachen müssen an der Wurzel gepackt werden.
Nam Trung Nguyen ist Direktor für Pharma & Medtech bei der Management-Beratung Atreus.
Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen
Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.
Jetzt kostenfrei testen