Diejenigen, die mehr Wettbewerb auf der Schiene fordern, verkennen die Besonderheiten des Eisenbahnverkehrs. Wie der etablierte Begriff der „Verkehrsplanung“ verdeutlicht, stellt die Verkehrswirtschaft einen wettbewerblichen Ausnahmebereich dar. Staatliche Eingriffe im Sinne gesellschaftlicher Zielvorgaben – beispielsweise eine Drosselung des motorisierten Individualverkehrs für den Klimaschutz oder die infrastrukturelle Anbindung ländlicher Räume – gelten als etablierte verkehrspolitische Hebel.
Vor dem Hintergrund hoher Markteintrittspreise im Bahnverkehr und vieler nicht beeinflussbarer Variablen, etwa die Trassenentgelte für die Nutzung des Gleisnetzes, verbleiben wenige Einsparungsmöglichkeiten. Ruinöse Konkurrenz äußert sich dann in einer Verschlechterung von Qualität und Sicherheit der angebotenen Dienstleistungen, weil beispielsweise Kosten bei Sicherheitskontrollen, der Ausstattung der Züge oder der Entlohnung sowie bei den Arbeitsbedingungen und der Ausbildung eingespart werden.
Und wenn immer mehr gewinnorientierte Unternehmen auf den Schienenverkehrsmarkt drängen, droht stets, dass diese ihre Angebote für die Ausschreibung schönrechnen – und die Kosten zu niedrig kalkulieren. Lohn- und Sozialdumping sowie Verstöße gegen arbeitsrechtliche Vorschriften sind die Folge.
Negativbeispiel Abellio
Eine Negativspirale wird in Gang gesetzt: Die Bahn ist kein attraktiver Arbeitgeber mehr, der Personalmangel und die ohnehin schon hohe Arbeitsbelastung der Beschäftigten verschärfen sich weiter. Unter Umständen sind die Fehlannahmen so gravierend, dass ganze (Teil-)Unternehmen bankrottgehen – so geschehen etwa bei der Abellio Rail, die bis zu ihrer Insolvenz 2022 im Regionalverkehr Nordrhein-Westfalens tätig war.
Mit Dumpingpreisen hatte das Tochterunternehmen der niederländischen Staatsbahn einige Ausschreibungen für sich entscheiden können. Wie schon andere Betreibergesellschaften ließ sich Abellio dabei im Kampf um Marktanteile in Konkurrenz zur DB Regio auf geradezu absurde Vertragsbedingungen ein. So musste das Unternehmen selbst dann hohe Strafzahlungen für Zugausfälle und -verspätungen leisten, wenn diese durch Baustellen des Netzbetreibers verursacht worden waren. Letztlich musste die öffentliche Hand mit insgesamt 928 Millionen Euro bis 2032 einspringen.
Erfolgsmodell Österreich
Wie Schienenpersonenverkehr erfolgreich funktionieren kann, zeigt ein Blick über die Alpen nach Österreich, das nicht nur bei den gefahrenen Personenkilometern europaweit im absoluten Spitzenfeld liegt. Die Züge fahren aufeinander abgestimmt im Taktfahrplan und sind deutlich pünktlicher als in Deutschland. 2022 waren es 95 Prozent und selbst im aufgrund von Wetterextremen, Bautätigkeiten und verspäteten Zugübergaben herausfordernden Jahr 2023 lag die Zufriedenheit der Fahrgäste mit ihren Verbindungen laut Umfragen bei 90 Prozent. Das belegt auch der Rekord von 329 Millionen Fahrgästen. Das Klimaticket, eine Jahreskarte für nahezu alle öffentlichen Verkehrsmittel in Österreich, die im Unterschied zum Deutschlandticket auch den Fernverkehr beinhaltet, erfreut sich großer Beliebtheit.
Grundlage für diesen Erfolg ist der politische Wille, den öffentlichen Verkehr zum Wohle der Bevölkerung zu gestalten und leistbare Mobilität auch auf Strecken zu sichern, die für Private nicht rentabel sind. Rund 80 Prozent der Schienenpersonenverkehre werden in Österreich ohne Wettbewerb vergeben. Darüber, dass diese sogenannte Direktvergabe auch in Zukunft der beste Weg ist, um ein breites Zugangebot zu sichern und weiterzuentwickeln, sind sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter in der Sozialpartnerschaft einig.
Ein weiterer Faktor für den Erfolg des Systems Bahn in Österreich sind die Investitionen des Staates in die Schieneninfrastruktur, die in Österreich mit 336 Euro pro Kopf etwa dreimal so hoch sind wie in Deutschland. Sie stützen sich auf eine langfristig gesicherte Planung in Form eines jährlich zu adaptierenden, auf sechs Jahre abgeschlossenen Rahmenplanes, der seit über 20 Jahren nicht nur Projekte des Neu- und Ausbaus – inklusive Erhaltung, sondern auch die Verpflichtungen der öffentlichen Hand zur Finanzierung des laufenden Eisenbahnbetriebs beinhaltet (Zuschussvertrag).
Kostspielige Koordination
In der Wettbewerbseuphorie geht zudem unter, dass die kompetitive Vergabe im Schienenverkehr nicht ohne Verwaltung, Koordination und Kontrolle auskommt und einen Bürokratieapparat mit erheblichen Kosten nach sich zieht. Nicht selten kommt es nach der Vergabe von Aufträgen zu juristischen Anfechtungen der Ausschreibungsverfahren, die immense Kosten produzieren, weil Anwaltskanzleien, Wirtschaftsprüfungsgesellschafen und zahlreiche Beschäftigte in den Verwaltungseinrichtungen mit den Fällen betraut werden müssen.
Aus Gesprächen mit schwedischen Vergabestellen ist bekannt, dass dort 4,9 Prozent der anfallenden Kosten allein auf die Beauftragung entfallen. Dirk Schlömer, Geschäftsführer von Mobifair, einer gemeinnützigen Organisation zum Schutz von Beschäftigten- und Verbraucherrechten in der Mobilitätsbranche, schätzt den Anteil in Deutschland auf immerhin drei Prozent.
Überdies sind sich während der Vertragslaufzeit ergebende Änderungen bezüglich der Anforderungen an die Taktung, die Reichweite und die Tarife bei einmal geschlossenen Verträgen nur schwer umzusetzen – oder entsprechend kostspielig. Verlieren Betreibergesellschaften Ausschreibungswettbewerbe, gereicht dies zudem den Beschäftigten der betroffenen Eisenbahnverkehrsunternehmen zum Nachteil, die unabhängig von ihrer Leistung am Arbeitsplatz ihren Job verlieren – und vielfach zumindest in die friktionelle Arbeitslosigkeit abgleiten.
Ausbleibende Erfolge der EU-Liberalisierungspolitik
Fraglich ist überdies, wie realistisch Bestrebungen zu mehr privatwirtschaftlichem Wettbewerb überhaupt sind. Betrachtet man die Entwicklung der von der EU-Kommission geforderten „Öffnung der Schiene“, wird ersichtlich, wie wenig Wirkung ihre Liberalisierungsinitiativen bisher entfaltet haben: Der Bundesnetzagentur zufolge kamen im Jahr 2022 im Durchschnitt nur 1,41 Bewerbungen auf eine wettbewerbliche Ausschreibung.
Offensichtlich wurden die Wettbewerbsträume durch die real existierenden Eigenheiten des Bahnwesens eingeholt. Im Nahverkehr, auf den Wettbewerbsbefürworter:innen so gern abstellen, steht die DB zwar bei nur 63,1 Prozent. Von den übrigen Anteilen entfallen allerdings gerade einmal 14,1 Prozent auf tatsächlich private Unternehmen. Den Rest machen in- und ausländische Betreiber öffentlichen Eigentums – beispielsweise mittels Tochterunternehmen europäischer Staatsbahnen wie im Fall von Abellio – unter sich aus. Von einer effizienten „Peitsche der Konkurrenz“ kann schwerlich die Rede sein, bürgen am Ende doch nach wie vor die Steuerzahler:innen.
Schließlich wird systematisch verkannt, dass die Bahn sich bereits dem Wettbewerb stellen muss. Die Rede ist vom intermodalen Wettbewerb, sprich der Konkurrenz zwischen verschiedenen Verkehrsträgern. Die Bahn muss sich gegenüber Straßen- und Luftverkehr sowie beim Gütertransport auch in der Schifffahrt behaupten. Der intramodale Wettbewerb um den schnellsten, preiswertesten und komfortabelsten Zug führt Bahnfahrer:innen hingegen nicht ans Ziel, sondern ins Chaos.
Hinzu kommt, dass der Wettbewerb in hohem Maße über die Personalkosten als eine der wenigen flexiblen Stellgrößen stattfindet. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass sich der Bahnsektor nicht nur durch hohe Fixkosten auszeichnet, sondern auch dadurch, dass Trassenentgelte, Energiekosten und Aufwand für rollendes Material für die Eisenbahnverkehrsunternehmen zumindest näherungsweise identisch sind. Auch vor diesem Hintergrund sollte die EU-Kommission von der Liberalisierung des Eisenbahnmarktes mittels Ausschreibungswettbewerben Abstand nehmen.