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Standpunkte Buschmanns unehrlicher Reformvorschlag

Dieter Müller, Professor für Verkehrsstrafrecht an der Hochschule der Sächsischen Polizei
Dieter Müller, Professor für Verkehrsstrafrecht an der Hochschule der Sächsischen Polizei

Mit seinem Vorstoß für eine angebliche Entkriminalisierung von Unfallflucht bei Sachschäden hat sich Justizminister Marco Buschmann einen wenig durchdachten Schnellschuss geleistet. Juristisch und lebenspraktisch spricht vieles dagegen. Das gesetzgeberische Vorhaben könnte durch die dilettantische Vorbereitung schon jetzt gescheitert sein.

von Dieter Müller

veröffentlicht am 12.05.2023

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Das erklärte Ziel von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) ist es, die Straftat des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (Paragraf 142 Strafgesetzbuch, StGB) zu entkriminalisieren, wenigstens ein Stück weit. Aus dem Kanon der Verkehrsstraftaten herausnehmen will er ausschließlich das Entfernen bei reinen Verkehrsunfällen mit Sachschäden. Weiterhin mit Strafe bedroht bleiben soll das Entfernen angesichts der Verursachung eines Verkehrsunfalls mit Personenschaden. Einige weitere gesetzgeberische Änderungsvorschläge flankieren diesen Wunsch, den der Justizminister den Verbänden zur Stellungnahme unterbreitet hat.

Unsicherheit bei Autofahrern?

In seiner Einleitung stellt das Bundesministerium der Justiz (BMJ) die Prämisse voran, dass bei Laien häufig Unsicherheiten über das korrekte Feststellungsverhalten nach einem Verkehrsunfall bestehen würden. Das verwundert, denn alle Fahrschülerinnen und Fahrschüler mussten seit Jahrzehnten einheitlich lernen, dass es laut Paragraf 142 StGB und Paragraf 34 (Straßenverkehrsordnung, StVO) eine Pflicht ist, gegenüber einem Unfallgeschädigten zur Verursachung des von ihm angerichteten Schadens zu stehen und ihm gegenüber notwendige Angaben zur Unfallregulierung zu machen.

Dass ein großer Teil von Unfallverursachern dennoch den Unfallort verließ, ohne die Verantwortung zu übernehmen, hat im Wesentlichen andere Gründe, nämlich oft eine Trunkenheitsfahrt, das Fehlen einer Fahrerlaubnis oder das Fahren mit einem unversicherten Kraftfahrzeug

Bestehende Unsicherheiten über die Dauer der Wartepflicht nach einem Unfall, bei dem der Geschädigte etwa zur Nachtzeit nicht vor Ort anwesend ist, könnte der Gesetzgeber ausräumen, indem er die vorhandene Formulierung einer „nach den Umständen angemessenen Wartezeit“ genauer fasst wie z. B. durch eine 30-minütige Pflichtwartezeit.

Auch die unselige Rechtsdiskussion zwischen den Obergerichten und den Kommentatoren des Straftatbestandes über den Schadensbetrag, ab dessen Höhe die Fahrerlaubnis entzogen werden muss, könnte durch einen Federstrich des Gesetzgebers beendet werden. Aber die Autofahrer kennen diese dogmatischen Feinheiten der Jurisprudenz ohnehin nicht. Sie als Argumente für eine Gesetzesreform vorzuschieben, ist gelinde gesagt unehrlich.

Undifferenzierte Kriminalisierung von Unfallverursachern?

Eine undifferenzierte Kriminalisierung von Unfallverursachern behauptet das BMJ und will mit seinem Vorhaben, das ungewöhnlicherweise noch nicht einmal formal den ersten Schritt eines Gesetzgebungsverfahrens darstellt, besagter Kriminalisierung entgegenwirken. Aber eine solche „undifferenzierte Kriminalisierung“ gibt es gar nicht.

Vielmehr gibt es seit Jahrzehnten einen Straftatbestand, der niemanden kriminalisiert, sondern ein vom Bundesgesetzgeber inkriminiertes Verhalten unter Strafe stellt – übrigens vom Bundesverfassungsgericht höchstrichterlich als verfassungsgemäße Regelung eingestuft und damit keineswegs irgendjemanden „kriminalisierend“. Was soll also diese plakative, Beifall heischende Wortwahl?

Gesetzeszweck der Beweissicherung

Nach wie vor soll mit dem Paragrafen erreicht werden, dass Unfallverursacher und deren Haftpflichtversicherungen für die Unfallfolgen einstehen sollen und gerade nicht die insoweit „unschuldige“ Versichertengemeinschaft oder gar niemand, wenn zum Beispiel keine Voll- oder Teilkaskoversicherung besteht. Dann nämlich bleibt der Geschädigte bei der „Unfallflucht“ auf seinem materiellen Schaden alleine sitzen.

Aber benötigt man für diesen Zweck unbedingt einen Straftatbestand? Nicht unbedingt. Auch eine neu zu konzipierende Verhaltenspflicht, zum Beispiel integriert in dem bereits bestehenden Paragraf 34 StVO, könnte dieses Ziel erreichen, wenn sie im hohen Bußgeldbereich etwa bei 500 Euro Geldbuße und einem Monat Fahrverbot einjustiert werden könnte. Zwei Punkte im Fahreignungsregister obendrauf und die Androhung wäre zumindest eine rechtspolitische Diskussion um den Austausch zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit wert.

Aber das wollen die eilfertigen Befürworter der Idee dann auch wieder nicht. Übrigens müsste eine solche Regelung auch mit dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) vereinbart werden; denn das ist für den Bußgeldkatalog und das Fahreignungsregister zuständig. Aber diese Absprache gibt es nicht.

Ziel erreicht oder doch verfehlt?

Derzeit kann niemand sagen, ob diese rechtspolitische Rochade dazu führen würde, dass sich mehr Unfallverursacher als bisher ihrer Verantwortung stellen würden. Überhaupt gibt es keine politisch initiierte Grundlagenforschung zu diesem Straftatbestand, und zwar weder durch das BMJ noch durch das BMV. Was man allerdings sagen kann, ist, dass deutlich weniger einschlägige Strafverfahren von den Amts- und Staatsanwälten zu bearbeiten wären.

Würde man allerdings ganz auf jegliche Form der Sanktionierung verzichten, gäbe es überhaupt kein Druckmittel mehr, sich nach der Fluchtfahrt vom Unfallort am nächsten Tag gegenüber der Polizei oder dem Geschädigten direkt zu erklären. Vermutlich würde die Anzahl der Unfallflüchtigen ins Uferlose steigen. Es wäre nicht einmal mehr ein „Kavaliersdelikt“. Schon heute führen kaum 40 Prozent der Strafanzeigen zur polizeilichen Ermittlung der Straftäter. Rechtsanwälte, die Geschädigten zu ihren Ansprüchen vertreten müssten, hätten keine Chance auf Schadensersatz durch die Schädiger.

Allgemeine Meldepflicht gegenüber einer Meldestelle

Das BMJ präferiert anstatt der existierenden Meldepflicht gegenüber einer nahe gelegenen Polizeidienststelle die Schaffung einer neu zu konzipierenden „Meldestelle“, der gegenüber über eine standardisierte Online-Eingabemaske eine Unfallmeldung abgegeben werden könnte, nebst hochgeladenen Unfallfotos. Wo diese ominöse neue Behörde etwa angesiedelt werden könnte? Keine Ahnung. Vielleicht im BMJ?

Damit wäre jedenfalls auf den ersten Blick die Polizei als Ermittlungsbehörde erst einmal obsolet. Aber dann doch wieder nicht, weil ja der Verstoß gegen eine solche Meldepflicht oder eine sachlich unzureichend abgegebene Meldung als Ordnungswidrigkeit geahndet werden müsste. Ermittlungsbehörden wären dann, je nach der Zuständigkeitsregelung in dem betreffenden Bundesland, alternativ oder in Kombination die Polizei und/oder die kommunale Bußgeldbehörde.

Das wäre im Endergebnis aber nichts anderes als eine Arbeitsverlagerung weg von der Staatsanwaltschaft hin zur Exekutive. Das klingt nicht gerade nach effizienten rechtspolitischen Überlegungen.

Und überhaupt, wer erklärt zum Beispiel betagten unfallbeteiligten Seniorinnen und Senioren, wie eine solche Eingabemaske technisch funktioniert, aus welchem Blickwinkel und mit welchen Abständen Unfallfotos und womit eigentlich anzufertigen und hochzuladen wären? Von der fehlenden Netzabdeckung in vielen Bereichen Deutschlands mit Mobilfunk ganz zu schweigen. Oder darf man die notwendigen Eintragungen gar ganz in Ruhe zu Hause vornehmen? Nichts Genaues weiß man nicht.

Tätige Reue als Rabattregelung

Bereits nach der geltenden Rechtslage verspricht der Staat Unfallflüchtigen einen Strafrabatt oder einen gänzlichen Verzicht auf eine Strafe, wenn ein Unfallflüchtiger sich innerhalb von 24 Stunden nach einem Unfall beim Ein- oder Ausparken mit geringem Sachschaden meldet. Tatsächlich ist nach einer solchen Selbststellung eine Unfallregulierung relativ problemlos möglich, und es bedarf tatsächlich keiner Strafe. Diese Idee hat durchaus Charme, und sie sollte auch problemlos durch eine kleine Änderung des bestehenden Gesetzestextes umgesetzt werden können. Einer rechtspolitischen Umfirmierung des Tatbestandes bedürfte es dann allerdings nicht.

Wenig durchdachter Schnellschuss

Es ist ein wenig durchdachter Schnellschuss, den sich das BMJ da geleistet hat. Natürlich springen die üblichen Verdächtigen eilends auf diesen Zug auf, um ihrer Klientel potenzieller Straftäter dadurch Straffreiheit zu versprechen. Ein sehr vordergründiges und fragwürdiges Unterfangen. Jedenfalls bedarf es noch eines gehörigen Grob- und Feintunings, um mit einem wirklichen Referentenentwurf erneut an die Öffentlichkeit zu treten. Tatsächlich könnte das gesetzgeberische Vorhaben aber durch eben diese dilettantische Vorbereitung schon gescheitert sein, bevor es überhaupt eine Chance zur Umsetzung bekommen hatte.

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