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Standpunkte HVO100: Palmöl durch die Hintertür

Johanna Büchler, Expertin für Klimaschutz im Verkehr, Deutsche Umwelthilfe
Johanna Büchler, Expertin für Klimaschutz im Verkehr, Deutsche Umwelthilfe Foto: Finke/DUH

Vor dem Hintergrund des aktuellen Lobbyskandals um HVO100 lohnt ein genauerer Blick auf den Kraftstoff. Denn am Bild vom klimafreundlichen Sprit aus altem Frittenfett ist fast alles falsch. Für Klimaschutz und zukunftsfähige Mobilität ist HVO100 eine Scheinlösung, die geradewegs ins Agrosprit-Debakel 2.0 führt.

von Johanna Büchler

veröffentlicht am 25.07.2024

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Nach E-Fuel/Porsche-Gate und Wasserstoff-Klüngel-Affäre nun also der HVO-Lobbyskandal. Eng gestrickte Netzwerke aus Kraftstoff-Lobbyisten und hochrangigen FDP-Politikern sind ganz offensichtlich nicht die Ausnahme, sondern die Norm. Die aktuellen Recherchen von „ZDF frontal“ zeigen, wie sich Verkehrsminister Volker Wissing und sein Parlamentarischer Staatssekretär Oliver Luksic von dem Autolobbyverein Mobil in Deutschland für eine konzertierte Werbekampagne für den Kraftstoff HVO100 einspannen ließen.

Pikantes Detail dabei: Wissings eigene Fachabteilung im Verkehrsministerium war gegen diese Zusammenarbeit – und begründete das unter anderem damit, dass es sich bei HVO100 um einen „Nischen-Kraftstoff“ handele. Das entspricht fast wortwörtlich der Einschätzung der Deutschen Umwelthilfe und anderer Umweltverbände zu HVO: „maximal […] eine Nischenlösung“. Auch die renommierte Energie-Ökonomin Claudia Kemfert spricht von einem „Nischenprodukt“.

Ungeachtet dieses Unisono-Votums der Fachexpert:innen propagiert die von Wissing und Luksic unterstützte HVO-Lobbykampagne nichts weniger als eine „Revolution für nachhaltige Mobilität“.

Zeit für einen Blick auf die Fakten.

HVO steht für „hydrotreated vegetable oil“. Schon das „Pflanzenöl“ im Namen weckt ungute Erinnerungen an Palmöl-Boom und Tank-Teller-Konflikte. In der Tat ist HVO eng verknüpft mit diesen alten Gespenstern der Agrokraftstoffpolitik – auch wenn die Werbekampagnen das mit frischen Namen („Klima-Diesel“, „Designer-Sprit“) zu verdecken suchen und man sich von Palmöleinsatz meist explizit distanziert.

Fakt ist: Noch im Jahr 2021 basierte der in Deutschland eingesetzte HVO-Kraftstoff laut den amtlichen Zahlen der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) größtenteils auf Palmöl. Dann beschloss die Bundesregierung (in einem überfälligen Schritt) das Ende der Anrechenbarkeit von Palmöl-Kraftstoffen auf die deutsche THG-Quote – und schon für 2022 weisen die BLE-Zahlen nicht mehr Palmöl, sondern „Abfälle und Reststoffe“ als primäre Rohstoffquelle für HVO aus.

Einsatz von Abwasser aus Palmölmühlen explodiert

Palmöl raus, alles gut? Kleiner Haken: Die für HVO genutzten „Abfälle und Reststoffe“ stammen zu großen Teilen aus der Palmölproduktion. Statt frischem Palmöl wird nun in großen Mengen sogenanntes palm oil mill effluent (POME) verwendet, also Abwasser aus Palmölmühlen. Während die Palmöl-Nutzung für HVO in Deutschland zurückging, ist genau zeitgleich der Einsatz von POME explodiert450 Prozent Mengensteigerung von 2021 auf 2022.

Physisch ist POME von frischem Palmöl ununterscheidbar. Eine Studie im Auftrag der EU-Kommission konstatiert deshalb ein „hohes Risiko“ für Betrug durch Umetikettierung von Palmöl zu POME. Es ist wahrscheinlich, dass genau solcher Betrug bereits stattfindet: Laut Branchenmeldungen exportieren Indonesien und Malaysia mehr POME, als sie auf Basis ihrer Palmölproduktion überhaupt haben können.

Neben POME sind „gebrauchte Speiseöle“ (used cooking oil, UCO) ein beliebter Rohstoff für HVO. Wer jetzt an das Frittenfett vom Sandwich-Shop um die Ecke denkt, liegt aber falsch: Die heimischen UCO-Potenziale sind klein und längst gebunden, für HVO wird daher in großem Stil importiert, größtenteils aus Asien. Und auch hier weisen Diskrepanzen in den Bilanzen auf Betrug hin: Malaysia etwa exportiert dreimal mehr „Altspeiseöl“, als im Land anfällt. Deutschlands Hunger nach UCO ist aber schon jetzt so groß, dass es von solchen dubiosen Importen abhängig ist.

So bleibt am Ende wenig übrig vom der Öffentlichkeit suggerierten Bild von HVO aus regional gesammelten Abfällen: 99,9 Prozent der Ausgangsstoffe für hierzulande getanktes HVO stammen laut BLE-Zahlennicht aus Deutschland. HVO ist ein reines Importprodukt – größtenteils auf Basis betrugsanfälliger, zumeist aus der Palmölproduktion stammender Pflanzenöle, die um den halben Globus geschippert werden und von denen niemand sicher nachweisen kann, ob sie wirklich „Abfall“ darstellen.

Neuauflage des alten Agrosprit-Trauerspiels

Alarmierend ist: Dies ist der Stand der Dinge bei einem HVO-Anteil von einem Prozent am Kraftstoffverbrauch im deutschen Straßenverkehr – geht es nach der Kraftstoff-Lobby, soll es jetzt erst so richtig losgehen. HVO100 wird als „Gamechanger“ für den Verbrennungsmotor angepriesen, Wissing will ihn Autofahrern schmackhaft machen, die Deutsche Bahn will Dieselloks damit betanken, Logistikunternehmen wollen ihren Lkw-Flotten einen grünen Anstrich verleihen.

Airlines setzen zur Erfüllung von EU-Beimischungsquoten auf Treibstoff aus genau denselben „Abfallrohstoffen“, ebenso die Schifffahrt. Buchstäblich jeder Verkehrsträger mit Verbrennungsmotor sieht bei HVO Potenziale für sich – und das natürlich nicht nur in Deutschland. Kein Wunder, dass Ölkonzerne Milliarden in neue HVO-Anlagen in Europa investieren. Geplant sind dabei Produktionsvolumina, die die verfügbaren Mengen an nutzbaren Abfallstoffen in der EU um den Faktor 4 übersteigen.

Dieser Pfad führt nicht zu Klimaschutz, sondern absehbar zu einer Neuauflage des alten Agrosprit-Trauerspiels: Ölplantagen-Expansion, Flächenfraß, Naturzerstörung. Eine sektorübergreifend explodierende Nachfrage nach „Abfall-Pflanzenöl“ weit jenseits tatsächlich existierender Mengen befeuert unweigerlich die Ausweitung der Pflanzenöl-Produktion.

Was an biogenen Stoffen vorhanden ist, ist zudem nicht „Abfall“, sondern Wertstoff. Nirgendwo liegen Rohstoffe ungenutzt herum und warten darauf, zu HVO verarbeitet zu werden; die allermeisten werden bereits genutzt, etwa in der chemischen Industrie. Werden biogene Stoffe nun zunehmend vom HVO-Markt gekapert, müssen sie in ihren bisherigen Anwendungen meist durch Palmöl oder fossile Rohstoffe ersetzt werden – Verlagerungseffekte, die hohe Treibhausgasemissionen nach sich ziehen.

Eine Analyse des US-Marktes konstatiert ein „hohes Risiko“, dass der HVO-Boom indirekt die Palmölproduktion in Südostasien anheizt, auf Kosten der letzten dortigen Regenwälder und ihrer Artenvielfalt. Dass solche Folgeeffekte die vielgepriesene Klimabilanz von HVO komplett zerschießen, muss wohl kaum betont werden.

Mehr Stickoxide als bei fossilem Dieselkraftstoff

Hinzu kommt, dass bei der Verbrennung von HVO gesundheitsschädliche Luftschadstoffe entstehen. Die gemessenen Stickoxid-Emissionen waren bei ersten eigenen Abgastests der DUH an einem Euro-5-Fahrzeug sogar höher als bei fossilem Dieselkraftstoff – während das Verkehrsministerium HVO100 als besonders sauberen Kraftstoff bewirbt. Diesem Widerspruch gehen wir aktuell auf den Grund.

Maßnahmen zur Betrugsprävention und bessere Überwachung der Lieferketten sind sinnvoll, werden aber das Grundproblem bei HVO nicht lösen können. Nicht solange weiterhin durch staatliche Förderung (Anrechnung auf die THG-Quote) und politische Lobbykampagnen die Nachfrage nach einem Kraftstoff angekurbelt wird, für den es schon heute praktisch keine verfügbaren, betrugssicheren Rohstoffe mehr gibt. Der HVO-Einsatz muss statt hoch- deutlich heruntergefahren werden – was bleibt, ist maximal eine kleine Nische für echtes, hierzulande eingesammeltes Altspeiseöl.

Für die Verbrenner-Lobby ist HVO100 attraktiv, weil der Kraftstoff dabei hilft, dem Märchen vom klimaverträglichen Verbrennungsmotor einen Anstrich von Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Für Klimaschutz und zukunftsfähige Mobilität ist HVO100 eine Scheinlösung, die geradewegs ins Agrosprit-Debakel 2.0 führt.

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