Wenn Sie in der Mobilitätsbranche tätig sind, haben Sie sicher mindestens eine der folgenden Situationen im Arbeitsalltag schon einmal erlebt:
- Sie haben an einem Ort gearbeitet, an dem es für Sie keine Toiletten gab – für alle anderen aber schon.
- Ihnen wurde stillschweigend oder auch ganz offen im Büro die Aufgabe übergeholfen, sich während Ihrer Arbeit um das Zwischenmenschliche zu kümmern – Geburtstage, Teamevents usw.
- Beim Bewerbungsgespräch wurden Sie gefragt, was Ihre bessere Hälfte so beruflich macht. Oder gleich, ob Sie Kinder haben oder planen, und wie Sie diese eigentlich betreuen wollen.
Sie haben das nicht erlebt? Dann sind Sie vermutlich ein Mann oder eine sehr privilegierte Person in der Arbeitswelt. (Diversität und Gerechtigkeit haben grundsätzlich viele Aspekte, und es gibt auch nicht nur zwei Geschlechter. Aber zum Anlass des heutigen Weltfrauentages beschäftige ich mich in diesem Standpunkt mit dem Geschlecht und unserer Branche.)
Fragen Sie sich bitte einmal, warum Sie sich als gut ausgebildete und begehrte Fachkraft, die aus vielen Angeboten wählen kann, für ein Arbeitsumfeld entscheiden sollten, zu dem die beschriebenen Situationen gehören. Diese Erfahrungen machen Frauen im Mobilitätsbereich auch heute noch regelmäßig. Ich habe meine Kolleginnen am Reiner Lemoine Institut (RLI) gefragt, und das ist eine Auswahl ihrer Antworten. Vieles davon habe ich selbst erlebt. Warum ist das so?
Kein attraktives und wertschätzendes Arbeitsumfeld
Nun, ich arbeite im Bereich Energie und Mobilität. Diesen Branchen fehlt es besonders stark an Frauen. Es fehlt vor allem Wissen, wie man ein attraktives und wertschätzendes Arbeitsumfeld für seine Beschäftigten schaffen kann. Und das ist meiner Meinung nach die Grundlage für Geschlechterparität im Arbeitsleben. Diese Erkenntnis ist gelinde gesagt bedauernswert – und das Verhalten kurzsichtig.
Denn unter den laut Statistischem Bundesamt 190.554 ingenieurwissenschaftlichen Studentinnen an deutschen Unis (Wintersemester 2020/21) sind schließlich auch die so dringend gesuchten Fachkräfte. Wir brauchen sie für die Entwicklung zukunftsfähiger Mobilitätskonzepte oder Antriebstechnologien und als Managerinnen für unsere Industrie.
Und was sehen die in den Statistiken, zum Beispiel zur Zusammensetzung der Führungsetagen in der Transportbranche, oder in Speaker-Fotos auf Konferenzeinladungen? Dass sie nicht Teil unserer Branche sind. Jene, die dennoch dort arbeiten, werden von Automobilunternehmen behelligt, die als Rahmenprogramm zum Weltfrauentag Schminken, Massage und Tupper-Partys (!) anbieten.
So eine Anfrage hat uns tatsächlich vor drei Jahren erreicht. Und obwohl wir am RLI mehr als 50 Prozent der Führungspositionen mit Frauen besetzt haben und insgesamt 45 Prozent der Mitarbeitenden weiblich sind, hat sich keine Person gefunden, die sich über diese Einladung gefreut hat.
Seit sechs Jahren leite ich das RLI, ein technikwissenschaftliches Forschungsinstitut rund um die erneuerbaren Energien. Wir arbeiten im Strom- und Wärmesystem genau wie im Verkehrsbereich. Unsere Belegschaft besteht aus Ingenieurinnen und Ingenieuren aller Fachrichtungen, dazu Informatik und Naturwissenschaften. Wir haben die Geschlechterparität auf allen Ebenen schon erreicht.
Wie schaffen wir das? Es sind keine Förderprogramme, MINT-Broschüren für Mädchen oder Mentoring-Initiativen. Wir haben in unserer Organisation eine passende Arbeits- und Führungskultur. Das ist transparent nachzulesen in unserer RLI-Charta. Außerdem ermöglichen unsere Arbeitsmodelle eine große Flexibilität bei Zeit und Ort. Und so kommen viele Frauen zu uns.
Damit das auch in Ihrer Organisation gelingt, habe ich sechs Empfehlungen für Sie:
- Nehmen Sie alle Beschäftigten ernst. Als Menschen – nicht mit Stereotypen im Kopf darüber, wie eine Frau oder ein Mann oder ein Mensch bestimmter Herkunft zu sein hat.
- Treten Sie Sexismus entgegen: Männer wie Frauen leiden darunter. Schaffen Sie eine Arbeitskultur, in der eine Haltung von der Form „Männer sind rational und Frauen emotional“ nicht unterstützt wird. Und beantworten Sie sexistische Anfragen wie die des oben erwähnten Autoherstellers klar und deutlich und erzählen Sie es in Ihrer Organisation als Negativbeispiel für Wertschätzung.
- Ihr Management reflektiert auch Ihre Werte. Wenn Sie glauben, dass Männer und Frauen kompetent sind, dann bringen Sie Männer und Frauen in Führung. Gleichsam gilt: Wenn Ihre Website nur Männer im Management oder Fotos mit vielen Männern und nur sehr wenigen Frauen zeigt, dann signalisieren Sie: Hier sind Frauen auf verlorenem Posten. Im Recruiting bedeutet das: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Mensch mit Werten wie Gleichstellung und Diversität für Ihr Unternehmen interessiert, sinkt.
- Kommunikation und Sprache: Sie wissen, was jetzt kommt. An der RLI-Sprache sollen alle unsere Beschäftigten und die Öffentlichkeit erkennen, dass wir alle Menschen ernst nehmen und niemanden nur „mitmeinen“. Das können Sie auch, es ist nicht schwer! Und Sie müssen Männern wie Frauen Gelegenheiten zur Sichtbarkeit geben. Achten Sie darauf, dass alle Ihre Kolleginnen und Kollegen in Meetings sprechen – genauso auf Betriebsversammlungen oder der Weihnachtsfeier.
- Verteilen Sie die „Office-Care-Arbeit“ gerecht. Glauben Sie mir: Die Ingenieurin im Team ist genauso wenig die Richtige für das Kümmern um das anstehende Hochzeitsgeschenk des Kollegen wie der Ingenieur – wir wollen alle gleichermaßen unser Fachwissen einsetzen und professionelle Ergebnisse zeigen!
- Ermöglichen Sie Männern und Frauen Auszeiten. Ermöglichen Sie grundsätzlich den Menschen, so viel oder so wenig zu arbeiten, wie sie es wollen – auch in Führung. Sie werden überrascht sein, dass der Wunsch nach Teilzeit nicht gegendert und bei vielen Menschen in allen Lebensabschnitten sehr verbreitet ist.
Mein Fazit: Geschlechterparität in der Mobilitätsbranche ist möglich, und Organisationen tragen große Verantwortung dafür, dass wir sie erreichen. Frauen studieren Ingenieurwissenschaften und haben ein Interesse daran, in technikorientierten Unternehmen zu arbeiten. Und wir – die Firmen, Forschungsinstitute, Ministerien, NGOs, Start-ups – präsentieren uns so, dass wir für Frauen eben attraktiv oder unattraktiv sind.
Wenn Frauen erst einmal bei uns arbeiten, dann können wir sie immer noch – so wie alle anderen Beschäftigen auch – an die Konkurrenz verlieren, in eine andere Karriere oder ans Privatleben. Das hängt davon ab, welche Erfahrungen sie bei uns machen und welche gesellschaftlichen und privaten Erwartungen an sie gestellt werden. Das Gesellschaftliche und Private haben wir alle in der Hand. Aber für die Geschlechtergerechtigkeit unserer Branche sehe ich die Verantwortung bei uns Organisationen und dort konkret im Management.