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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Warum Crashtest-Dummy Eva (hoffentlich) erst der Anfang ist

Laura Gebhardt, Gruppenleiterin am DLR-Institut für Verkehrsforschung
Laura Gebhardt, Gruppenleiterin am DLR-Institut für Verkehrsforschung Foto: DLR

Ob es um die Belastung von kleinen Fahrer:innen bei Autounfällen oder um die Ausrichtung unseres Verkehrssystems geht – unsere gegenwärtige Mobilität berücksichtigt die Bedürfnisse von Frauen viel zu wenig. Dass sich hier etwas ändern muss, haben jetzt auch die Vereinten Nationen eingesehen.

von Laura Gebhardt

veröffentlicht am 06.02.2023

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Jüngst wurde Eva, der erste weibliche Dummy für Pkw-Crashtests von einer schwedischen Forscherin zum Leben erweckt. Eva ist 162 Zentimeter groß, wiegt 62 Kilogramm und hat einen anders geformten Körper als der Dummy, der bisher für Crashtests genutzt wird. Thor, so heißt der bisher verwendete Dummy in der EU. Er ist dem europäischen sogenannten 50-Perzentil-Mann nachempfunden, 175 Zentimeter groß, wiegt 78 Kilogramm und hat eine männliche Anatomie. Bei Zulassungsprüfungen und beim Euro-NCAP-Crashtest kommt er zum Einsatz.

Bei diesen Aufpralltests werden wichtige Erkenntnisse gewonnen, die in die Gestaltung von Fahrzeugen einfließen – beispielsweise die Anordnung von Sitzen, Gurten, Kopfstützen und Airbags. Die Nichtberücksichtigung von Frauen-Dummys hat zur Folge, dass das Verletzungsrisiko von Frauen nicht adäquat abgebildet wird.

Dabei spielen nicht nur Unterschiede bei Größe und Gewicht eine Rolle, auch ist beispielsweise die weibliche Halswirbelsäule weniger stabil als die männliche und die Muskulatur des vergleichsweise schmalen Nackens nicht so stark ausgeprägt. Frauen erleiden dadurch häufiger ein Schleudertrauma und haben ein höher ausgeprägtes Risiko für Bein-, Arm- und Brustverletzungen als Männer.

In Zahlen ausgedrückt liegt die Gefahr bei einem Autounfall schwerwiegender bis lebensbedrohlicher Brustverletzungen bei Frauen 30 Prozent höher als bei Männern – das Gleiche gilt übrigens für Jugendliche und Senioren. In der aktuellen öffentlichen Debatte wird dieses Missverhältnis unter dem Begriff „Gender Safety Gap diskutiert.

Produktentwicklung meist am Durchschnittsmann ausgerichtet

Die Ausrichtung an einem männlichen Referenzmenschen, wie es in vielen Lebensbereichen der Fall ist, führt dazu, dass Angebote und Produkte an den Bedürfnissen von vielen Personen, die nicht dem Referenz-Mann entsprechen, vorbei gehen. Beispiele gibt es aus ganz unterschiedlichen Bereichen: Medikamente werden vornehmlich an Männern getestet, weswegen diese bei Frauen regelmäßig überdosiert werden; normale Büroräume sind für Frauen eigentlich einige Grad zu kalt, was nicht nur zu einem geringerem Komforterleben, sondern auch zu einem gesundheitlichen Risiko für Frauen führen kann; und die Sprachassistentinnen Alexa oder Siri verstehen männliche Stimmen besser als weibliche, da auch hier vor allem männliche Personen die Sprachassistentinnen mitentwickelt und getestet haben. 

Auch im Bereich der Mobilität lässt sich neben dem eingangs genannten Beispiel des Crashtest-Dummys eine Reihe weiterer Beispiele finden, die zeigen, wie wichtig es ist, die Alltagspraktiken und Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzer:innen in den Blick zu nehmen; und eben auch genderspezifische Unterschiede.

Frauen und Männer haben unterschiedliche Anforderungen an Mobilität

Aus wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass Männer und Frauen unterschiedlich unterwegs sind. Das kommt unter anderem dadurch zustande, dass Männer und Frauen unterschiedliche Bedürfnisse haben, zum Beispiel hinsichtlich der eigenen Sicherheit, aber auch, weil sie nicht die gleichen Zugangsvoraussetzungen haben, bedingt durch unterschiedliche sozioökonomische Situationen.

Doch vor allem sind die Unterschiede durch verschiedene Aufgaben und soziale Rollen zu erklären, die sich in spezifischen Aktivitätsmustern niederschlagen. Frauen übernehmen im Schnitt nach wie vor den größeren Anteil an Care-Arbeit, der in einem Haushalt anfällt. Frauen legen mehr und kürzere Wege beziehungsweise komplexere Wegeketten zurück, weil sie etwa Care-Wege (zum Beispiel Kinder zur Kita bringen) auf ihrem Weg zur Arbeit erledigen.

Männer hingegen arbeiten im Schnitt häufiger in Vollzeit, übernehmen weniger Care-Aufgaben und verlassen dadurch häufig morgens das Haus, um zur Arbeit zu fahren und kommen abends von der Arbeit zurück. Der Ausdruck „Hauptverkehrszeit“ bezieht sich auf diese klassischen Pendler:innen-Zeiten morgens zur Arbeit und nachmittags beziehungsweise abends zurück.

Streckennetze in Städten sind oft sternförmig aufgebaut, damit Pendler:innen schnell von zu Hause zur Arbeit und dann wieder zurück kommen. Care-Arbeit ist jedoch nicht so organisiert. So fährt eine berufstätige Mutter zum Beispiel morgens von zu Hause los, bringt auf dem Weg zur Arbeit die Kinder zur Schule oder in den Kindergarten, holt diese nach der Arbeit wieder ab, bringt sie zum Sport und fährt dann nach Hause. Es bedürfte hier eher einer „Kreisbeziehung“, um diese Aktivitätenorte einer Familie schnell und unkompliziert zu erreichen. Die Stadt Wien beispielsweise versucht, Konzepte dieser Art umzusetzen, und kann hier als Vorreiterin in puncto geschlechtergerechte Stadtplanung genannt werden.

Belastung von kleinen Personen beim Unfall viel zu hoch

Viele neue Mobilitätsangebote sind eher auf die klassischen Early Adopter, das heißt junge, urbane, gut gebildete und einkommensstarke Personen, zugeschnitten und werden in den urbanen Zentren von Metropolen erprobt. Dezentral lebende, ältere oder mobilitätseingeschränkte Personen sowie Familien haben sie nicht (explizit) im Blick. So bräuchten kleinere Personen, wie Frauen oder ältere Menschen, gegebenenfalls verstellbare Pedale und Lenkräder sowie spezielle Knie-Airbags als Aufpralldämpfer.

Heutzutage müssen kleine Frauen, um die Pedale in einem Auto zu erreichen, den Fahrersitz oft verhältnismäßig weit nach vorne schieben. Somit sitzen sie nah am Armaturenbrett und vergleichsweise hoch. Bei einem Unfall schützt der Airbag dann womöglich nicht zielgenau. In Crashtests wurde nachgewiesen, dass frauengerecht angeordnete Pedale die Belastungswerte für die Extremitäten von Frauen und kleineren Menschen um rund das Fünffache senken würden. 

Und auch fernab von Sicherheitsfragen haben Menschen aufgrund ihrer Tätigkeiten und ihrer Wegemuster unterschiedliche Anforderungen an die Gestaltung eines Verkehrsmittels. So braucht ein Mann, welcher seinen Pendelweg arbeitend angenehm zurücklegen möchte, ein anders gestaltetes Verkehrsmittel als eine Mutter, die mit Kleinkind und Gepäck unterwegs ist. Der Mann will auf seinem Pendelweg möglicherweise am Laptop arbeiten, braucht also relativ wenig Platz und will in erster Linie ungestört sein.

Vereinte Nationen prüfen neue Crashtests

Die Mutter mit Kind braucht dagegen deutlich mehr Platz, wird mit einem eventuell lauten und aktiven Kind möglicherweise Mitreisende stören und erreicht aufgrund ihrer geringen Körpergröße dabei nicht einmal die Standard-Halteschlaufe in Bus und Bahn

Diese Unterschiede gilt es wissenschaftlich zu untersuchen sowie die gewonnenen Erkenntnisse in die Gestaltung von Verkehrsmitteln und Mobilitätsangeboten zu überführen. 

Zurück zu Eva. Ob und wie schnell es Eva hinter das Steuer schafft, dürfte nicht zuletzt eine Kostenfrage sein. Die schwedische Wissenschaftlerin Astrid Linder, die mit ihrem Team Eva entwickelt hat, hofft und fordert, dass die Vorschriften für Crashtests angepasst werden. Die Vereinten Nationen haben bereits den Anfang gemacht und prüfen dies derzeit.

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