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Standpunkte Warum Draghis Plan die Transformation der Autoindustrie beschleunigen würde

Gereon Meyer, Abteilungsleiter Europäische und Internationale Geschäftsentwicklung VDI/VDE Innovation und Technik
Gereon Meyer, Abteilungsleiter Europäische und Internationale Geschäftsentwicklung VDI/VDE Innovation und Technik Foto: promo

Die Verschiebung der CO2-Flottengrenzwerte wird die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Autohersteller kaum beflügeln. Eine klügere Forderung ist das von Mario Draghi vorgeschlagene Instrument: Der Ex-EZB-Präsident möchte den Automotive-Bereich zum „Important Project of Common European Interest“ erklären. Überzeugt werden davon muss noch der Bundesfinanzminister.

von Gereon Meyer

veröffentlicht am 17.09.2024

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Die Forderung, die für 2025 geplante Verschärfung der CO2-Flottengrenzwerte um zwei Jahre zu verschieben, die laut Medienberichten von Teilen der europäischen Automobilindustrie kommt, hat die Europäische Kommission Ende letzter Woche sicher überrascht. Die Verringerung der Grenzwerte um weitere 15 Prozent ist eigentlich Teil des Fit-for-55-Pakets, das die Treibhausgasemissionen der EU bis 2030 zunächst um 55 Prozent senken soll. Im Bereich des Autoverkehrs erfolgt dies schrittweise. Ab 2035 dürfen dann nur noch komplett emissionsfreie Neuwagen auf den Markt gebracht werden – was hierzulande oft überspitzt als „Verbrennerverbot“ bezeichnet wird.

Den Automobilherstellern sind die Flottengrenzwerte seit langem ein Dorn im Auge. Ihr europäischer Branchenverband drängt auf realistischere Ziele und fordert bessere Rahmenbedingungen für Elektro- und Wasserstofffahrzeuge, insbesondere den Ausbau der Infrastruktur. Dass nun der „Notstandsartikel“ 122 der EU-Verträge ins Spiel gebracht wird, um im beschleunigten Verfahren am EU-Parlament vorbei die Spielregeln zu ändern, zeigt die Dramatik der Lage. Bisher wurde dieser Artikel nur in Ausnahmefällen wie der Covid-19-Pandemie und der Energiekrise zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine angewendet.

Ab kommenden Jahr drohen Autoherstellern Strafzahlungen in Milliardenhöhe

Die Argumente der Unternehmen wiegen durchaus schwer: Der Absatz von Elektroautos bleibe in Europa hinter den Erwartungen zurück, nicht zuletzt durch den zunehmenden Import öffentlich subventionierter Modelle aus China. Dadurch würde es für europäische Hersteller schwieriger als gedacht, ihre Flottenemissionen, in die Elektrofahrzeuge mindernd mit eingerechnet werden, abzusenken. Infolgedessen könnten ab 2025 Strafzahlungen im zweistelligen Milliardenbereich fällig werden. Werksschließungen wären die Folge. Umweltverbände wie Transport & Environment halten dies für übertrieben – die Grenzwerte seien schon 2019 bekannt gewesen, und die Hersteller hätten genug Zeit zur Vorbereitung gehabt.

Auch die wachsende Dominanz Chinas in der Elektromobilität war eigentlich absehbar. Bei der Internationalen Konferenz der deutschen Bundesregierung zur Elektromobilität äußerte sich der damalige chinesische Wissenschaftsminister Wan Gang 2013 begeistert über die Potenziale von Elektrofahrzeugen. Als früherer Forschungsmanager eines hiesigen Automobilherstellers diktierte er der Presse in akzentfreiem Deutsch lakonisch in den Block: „Das elektrische Fahrzeug ist leise, stört keinen, und lässt sich leicht steuern. Es braucht keine Gangschaltung und bringt eine neue Fahrweise hervor, weil es mit IT verbunden ist. Das bringt uns eine revolutionäre Zukunft.“

Zehn Jahre später präsentieren Hersteller wie BYD und Nio im letzten Herbst auf der IAA Mobility in München hochentwickelte und erschwingliche Fahrzeuge, die direkt dieser Vision zu entsprechen scheinen und den europäischen Modellen zunehmend Konkurrenz machen. Viele Messebesucher werden sich erstaunt die Augen gerieben haben, wie weit diese Fahrzeuge in punkto Reichweite, Digitalsteuerung, Automatisierung, Komfort und Entertainment gediehen sind.

Draghi will Wettbewerbsfähigkeit und Klimaziele koppeln

Vor diesem Hintergrund erscheint die Forderung nach einer Verschiebung der CO2-Grenzwerte wenig ambitioniert. Umweltverbände werfen der Autoindustrie vor, sie wolle lediglich den Profit maximieren und sonst alles beim Alten belassen. Auch steht in den Sternen, wie viele Mitgliedsstaaten bei einer entsprechenden Aktivierung des Notstandsartikels dem Vorschlag überhaupt zustimmen würden.

An dieser Stelle lohnt ein Blick in den von Mario Draghi für die neue EU-Kommission geschriebenen Bericht „The Future of European Competitiveness“, der im Kern vorschlägt, die Wettbewerbsfähigkeit Europas durch mehr Innovation, verstärkte Dekarbonisierung und die Verringerung strategischer Abhängigkeiten, besonders von China, zu steigern. Der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank legt damit die Blaupause für die nach der Europawahl erwartete Verbindung von Klimazielen des Green Deals mit wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit vor. Und die ist das Gegenteil dessen, was durch eine Aufweichung der Grenzwerte erreicht würde.

Draghi schlägt in seinem Bericht einen industriellen EU-Aktionsplan für die Autoindustrie vor. Ziel ist es, die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland und die Übernahme europäischer Werke durch ausländische Firmen zu verhindern. Sein erster Vorschlag, Einfuhrzölle auf chinesische Elektrofahrzeuge zu erheben, befindet sich seit diesem Sommer bereits in Umsetzung.

Der zweite Vorschlag ist ebenfalls hoch interessant: Eine Innovationsroadmap, die auf eine stärkere Verzahnung der europäischen Wertschöpfungsketten abzielt. Draghi spricht von der Konvergenz verschiedener Innovationsfelder, sowohl horizontal zwischen Elektrifizierung und Digitalisierung, als auch vertikal entlang der gesamten Produktionskette von Rohstoffen über Batterien bis hin zur Ladeinfrastruktur zum Laden beziehungsweise zum Datenaustausch. Ein „Important Project of Common European Interest“ (IPCEI) könnte diese Roadmap künftig durch massive Förderung von Forschung und Innovation realisieren.

Wettbewerb durch Innovation fördern

Die Idee ist kein Novum. Bereits 2019 hatte die Europäische Kommission sechs besonders kritische industrielle Wertschöpfungsketten identifiziert. Darunter auch die für saubere und autonome Fahrzeuge. Schon damals war von einem IPCEI die Rede, einem Instrument, das sich ebenfalls auf einen Ausnahmesachverhalt bezieht und in den EU-Verträgen geregelt ist, hier im Artikel 107. Diese Bestimmung erlaubt es der Europäischen Kommission, den Mitgliedsstaaten bei drohendem Marktversagen und potenziellem gesamteuropäischen Mehrwert ausnahmsweise Beihilfen für Projekte zu genehmigen, die Forschung und Entwicklung mit Innovation im höchsten Grad der Technologiereife verbinden, dem ersten industriellen Einsatz. Gewöhnlich würde das als marktverzerrend abgelehnt.

Bisher gibt es solche IPCEIs zum Beispiel für Batterien und Mikroelektronik, nicht aber im Bereich Automotive, wohl auch, weil sich im Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe mit 2Zero und CCAM bereits zwei sehr erfolgreiche Partnerschaften für die Förderung von Forschung und Innovation im Bereich des emissionsfreien beziehungsweise automatisierten Straßenverkehrs gebildet haben. Diese vereinen für sieben Jahre EU-Gelder in der Höhe von insgesamt etwa einer Milliarde Euro auf sich.

Mario Draghi zeigt auf, in welchen Bereichen die europäische Autoindustrie im Vergleich zu China ins Hintertreffen gerät: Software-definierte Fahrzeuge, Kreislaufwirtschaft und kleine, erschwingliche Elektroautos.

Eine Förderung dieser synergetisch wirkenden Schwerpunkte wäre jetzt die klügere Forderung. Sie würde gut zur aktuellen Debatte um weitere IPCEIs aus den Bereichen Digitalisierung und Cleantech passen, könnte bestehende Partnerschaften ergänzen und die Industrie dabei unterstützen, sich zu transformieren, statt an veralteten Strukturen festzuhalten. So würde die Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation gestärkt, ohne die CO2-Ziele aufzugeben, und gleichzeitig könnten die europäischen Wertschöpfungsketten im Automobilsektor widerstandsfähiger gemacht werden. Allerdings muss dazu der Finanzminister über seinen Schatten springen, denn beim IPCEI geht es um nationales Geld, und in Deutschland um besonders viel davon.

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