Die EU-Kommission hat für die erste Jahreshälfte 2020 eine Strategie für Künstliche Intelligenz „made in Europe“ angekündigt. Damit stellt Europa gemeinsam die große Frage, welche Aufgaben uns die Maschinen künftig abnehmen sollen. Viel wird darüber geklagt, Europa habe das Rennen um Künstliche Intelligenz (KI) gegen die USA und China bereits verloren. Die eigentlich relevante Frage aber lautet: Wo geht das Rennen denn hin?
China ist auf dem Weg zu einer Orwellschen Totalüberwachung der Bevölkerung, bei der die Bürgerinnen und Bürger auf Schritt und Tritt kontrolliert und durch Social Scoring für jedes unerwünschte Verhalten bestraft werden. In den USA läuft alles auf die entfesselte Macht eines Konzern-Oligopols hinaus, das mit immer weniger Arbeitsplätzen immer mehr Gewinn erwirtschaftet. Die Innovationskraft der Wirtschaft wird geschwächt, indem die Giganten einerseits vielversprechende Start-ups aufkaufen, um Wettbewerb zu verhindern, andererseits unglaubliche Datenmengen sammeln und mit der damit einhergehenden Macht auch traditionsreiche Unternehmen anderer Branchen aus dem Markt drängen. Das kann nicht der Weg der Europäischen Union sein. Keines dieser Modelle ist mit unserer Vorstellung von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft vereinbar.
Europäische Technologie und Werte fördern
Europa muss sich klar mit eigenen Werten und Zielen behaupten. Die Herausforderungen liegen auf dem Tisch: Klimaschutz und nachhaltiges Wirtschaften, Optimierung dezentraler Energieversorgungssysteme und nachhaltige Mobilität. In der industriellen Fertigung – dort, wo europäische Unternehmen immer noch Innovationsführer sind und bleiben sollen – können Algorithmen für langlebigere Produkte, optimale Rohstoffnutzung und maßgeschneiderte Instandhaltungsintervalle den Fußabdruck der Industrie verringern. Moderne Stromnetze profitieren von KI-Systemen durch Wartungsempfehlungen, Schwachstellenerkennung, Steuerung von erneuerbaren Energien und Nachfragesteuerung. Die Mobilität der Zukunft wird dank einer optimalen Koordination von Angebot und Nachfrage effizient und ressourcenschonend zugleich sein.
Zielgerichtete KI-Forschung kann unsere Wirtschaft in Domänen nach vorn bringen, die in anderen Kontinenten nicht im Fokus stehen. Darauf müssen wir setzen. Schon jetzt investiert die EU deutlich weniger in KI als die Konkurrenz in Übersee. Diese Mittel sollten aufgestockt und zielgerichtet eingesetzt werden: für Klimaschutz, nachhaltiges Wirtschaften, Demokratie, die Wahrung der Grundrechte und soziale Gerechtigkeit.
Abgrenzung zu China und den USA
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wir von Technologien Abstand nehmen, die in erster Linie der Überwachung, Bewertung und Manipulation menschlichen Verhaltens dienen. Wer die Proteste in Hongkong verfolgt hat, sieht Menschen, die nur noch mit Masken auf die Straße gehen. Eine allgegenwärtige Gesichtserkennung wie in China macht demokratische Freiheitsrechte zur Makulatur. Hierzulande vertrauen Bürgerinnen und Bürger noch darauf, dass Bilder aus Videoüberwachungen nur zur Aufklärung von Verbrechen verwendet werden. Wenn ein Algorithmus jedoch in Sekundenschnelle Millionen Bilder scannt, um ein komplettes Bewegungs- und Emotionsprofil über eine Person zu erstellen – sogar kombiniert mit Daten aus den sozialen Netzwerken – kann von Freiheit keine Rede mehr sein. Deshalb fordern wir ein Verbot der Gesichtserkennung in öffentlichen Räumen in Europa.
Im offenen Widerspruch zu unserer Rechtsauffassung stehen auch die in den USA breit eingesetzten Systeme zum sogenannten „predictive policing“. Ein Beispiel: Wenn arme Stadtviertel häufiger polizeilich kontrolliert werden als reiche, werden dort mehr Straftaten festgestellt. Dementsprechend schlägt das System genau diese Stadtviertel wieder verstärkt für Streifenfahrten vor – obwohl die an der Wall Street begangen Straftaten vermutlich der Gesamtgesellschaft deutlich mehr Schaden zufügen als die Kleinkriminalität in der Bronx.
Risikomodell für KI-Systeme
Immer, wenn Künstliche Intelligenz Menschen bewerten soll, ist die Technik riskant. Scheinbar harmlose KI-Systeme bevorzugen bei der Bewerbungsauswahl für hochdotierte Jobs mit großer Wahrscheinlichkeit Männer, die jung, gesund und weiß sind. Denn in den Datensätzen lauern historische Ungleichheiten und Diskriminierungen gegen Frauen, People of Color, LGBTI und Menschen mit Behinderungen. Alle algorithmischen Systeme müssen nach einem Risikomodell, wie es beispielsweise die Datenethikkommission vorgeschlagen hat, auf ihre Rechtmäßigkeit und Neutralität geprüft werden. Wenn eine diskriminierende Verzerrung nicht behoben werden kann, dürfen solche grundrechtsverletzenden Systeme in Europa nicht eingesetzt werden.
Europa darf dem Sirenengesang der heilsversprechenden KI-Industrie nicht folgen, sondern muss eigene Prioritäten und Grenzen setzen. Nur so können wir Demokratie und soziale Marktwirtschaft schützen und gleichzeitig die europäische Industrie stärken.
Alexandra Geese (51) ist seit Mai 2019 Mitglied der Fraktion Greens/EFA im Europäischen Parlament. Sie kümmert sich federführend für ihre Fraktion um den „Digital Services Act“ und begleitet den KI-Stragegieprozess. Heute um 10 Uhr wird über die von Geese initiierte Resolution zu Künstlicher Intelligenz im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz abgestimmt. Es ist die erste Erklärung des Parlaments zu automatisierten Entscheidungsprozessen in dieser Legislatur und wird mit breiter Mehrheit von sechs Fraktionen getragen.