Wo stehen wir?
- Fundamentale Umbrüche. Die Regulierungsansätze und -instrumente des Urheberrechts beruhen häufig noch auf analogen Denkmodellen. Digitalisierung und Vernetzung setzen diese Regelungsarchitektur seit 30 Jahren einem Stresstest aus. Weil der (europäische) Gesetzgeber nur punktuell reagiert, übernehmen Gerichte zunehmend Regulierungsaufgaben.
- Urheberrecht als Ordnungsrahmen für Kommunikation. Das Urheberrecht ist nicht nur das Wirtschaftsrecht der Kreativen, Medien und Intermediäre. Weil praktisch alle Inhalte – Texte, Bilder, audiovisuelles Material – geschützt sind, bestimmt das Urheberrecht zugleich die Kommunikation in der Gesellschaft. In einer pluralistischen Demokratie kommt ihm damit eine Schlüsselposition zu.
- Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Das Recht fokussiert auf den Alleinurheber, in der Praxis dominiert arbeitsteiliges Schaffen. „Rechtsinhaber“ sind oft nicht die Kreativen selbst, sondern die Unternehmen der Kreativwirtschaft. Trotz des Formalitätenverbots lassen sich Inhalte in den digitalen Ökosystemen oftmals erst dann verwerten, wenn sie in den privaten Registern der Verwertungsgesellschaften oder der Plattformen erfasst sind. Eine starre Schutzdauer erlaubt die Monetarisierung von einzelnen, am Markt erfolgreichen Schutzgegenständen über sehr lange Zeiträume, errichtet aber zugleich Zugangshindernisse für alle Werke und erschwert dadurch gesellschaftlich gewünschte (kreative) Nutzungen.
Was brauchen wir? - Komplexitätsreduktion durch Differenzierung. Das scheinbar einfache System einheitlicher weitreichender Ausschließlichkeitsrechte für geschützte Inhalte aller Art, gepaart mit starren gesetzlichen Schranken, führt in der Praxis zu überkomplexen Lösungen. One size doesn’t fit all: Wir benötigen sektorspezifische Ansätze, um dysfunktionale Effekte zu vermeiden und adäquate Regelungen für unterschiedliche Herausforderungen der jeweiligen Teilsysteme bereitzustellen.
- Entlastung von falschen Erwartungen. Wir brauchen eine gesellschaftliche Verständigung über die Kernaufgaben des Urheberrechts: Das Urheberrecht muss die richtigen Anreize schaffen und Zugangsregeln bereitstellen, welche Kreativität fördern, die Authentizität des Geschaffenen schützen und für die Kommunikationspraktiken seiner Umwelt sensibilisiert sind. Es dient nicht dem Schutz von Geschäftsmodellen.
- Pluralität von Governanceinstrumenten. Vieles von dem, was heute urheberrechtlich geregelt wird, könnte Markt und Technik überlassen werden (governance by technology). Voraussetzung dafür sind aber angemessene rechtliche Rahmenbedingungen (governance of technology). Das Urheberrecht ist integraler Teil dieses Rechtsrahmens. Deshalb ist stets zu fragen, ob das angestrebte Ziel (auch) über das Urheberrecht erreicht werden kann; urheberrechtliche Regulierungsdefizite dürfen nicht mit dem Verweis auf andere Regulierungsinstrumente hingenommen werden.
Was müssen wir dafür tun? - Visionär denken. Ein modernes Urheberrecht muss die Trends und Szenarien der nahen Zukunft im Blick haben. Dafür muss die europäische Wissenschaft gemeinsam, arbeitsteilig und strukturiert arbeiten und konkrete Vorschläge unterbreiten, die auch den bestehenden europäischen oder internationalen Rechtsrahmen zur Diskussion stellen dürfen. Die Institutionen der Europäischen Union und in den Mitgliedstaaten sollten dieses Forschungsprogramm fördern und den Ergebnissen Beachtung schenken.
- Inter- und intradisziplinär forschen. Um die Eigenrationalitäten der vom Urheberrecht betroffenen Teilsysteme besser zu verstehen, ist sozial- und technikwissenschaftliches Wissen notwendig. Dieses Wissen müssen wir heranziehen, um das kreative Ökosystem angemessen zu regulieren. Auch innerhalb der Rechtswissenschaften müssen wir das Silodenken aufbrechen und etwa die arbeits-, datenschutz- und vertragsrechtlichen Dimensionen mitdenken sowie Problemen der Rechtsdurchsetzung im internationalen Kontext Rechnung tragen.
- Sektorspezifisch regeln. Wir brauchen sorgfältige empirische und normative Analysen der unterschiedlichen Bereiche der Kreativwirtschaft sowie ihrer Interaktionen untereinander und mit ihren Nachbarsystemen. Auf dieser Basis lassen sich passgenaue Regelungen für die einzelnen Teilsysteme entwickeln, die den vielen Umwelten des Urheberrechts besser gerecht werden.
- Eine neue Architektur erarbeiten. Das Urheberrecht des 21. Jahrhunderts muss aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen, darf aber nicht an die Instrumente und Lösungen gebunden bleiben, die für das analoge Zeitalter galten. Die Praktiken der digitalen, internetbasierten Nutzung erfordern geänderte (sektorspezifische) Regelungen. Möglich wäre etwa eine (verkürzte) Schutzdauer mit gebühren- und registrierungspflichtiger Verlängerungsmöglichkeit. Sie würde Anreize für Rechteinhaber setzen, das wirtschaftliche Potential regelmäßig zu evaluieren, und so gleichzeitig die Gemeinfreiheit stärken. Registersysteme unter öffentlicher Kontrolle könnten das Schutzsystem entlasten und die Verwertung und Zugänglichkeit im Interesse aller Stakeholder und der Allgemeinheit stärken. Zugleich müsste das Urheberpersönlichkeitsrecht im digitalen Kontext stärker zur Entfaltung gebracht werden.
Das Memorandum wurde erstellt von Katharina de la Durantaye, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), Michael Grünberger, Universität Bayreuth, Christian Handke, Erasmus University Rotterdam, Moreen Heine, Universität zu Lübeck, Reto M. Hilty, MPI Innovation und Wettbewerb, München, Ruth Janal, Universität Bayreuth, Nadine Klass, Universität Mannheim, Stephan Ory, Institut für Europäisches Medienrecht e.V., Saarbrücken, Karl-Nikolaus Peifer, Universität zu Köln, Felix Laurin Stang, Raue, Berlin, Herbert Zech, Humboldt-Universität zu Berlin.
Es wird heute hier diskutiert im Rahmen der Veranstaltung „Datenökonomie, KI und geistiges Eigentum“ des Bundesjustizministeriums.