Der Schriftsteller Eugen Ruge schrieb kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Ich kann mich irren, aber ich darf mich auch irren. Demokratie ist, wenn man sich irren darf, ohne gleich geächtet zu werden.“
Wer sich irrt, einen Fehler macht, eine unkonventionelle Sichtweise vertritt oder einmal einen schwachen Auftritt hinlegt, der ist auf Verständnis und Großherzigkeit seines Gegenübers angewiesen – kurz: auf eine schlicht anständige Reaktion. Und auch, wer eine andere Meinung vertritt als die Mehrheit, verdient zunächst einmal Gehör – und eine sachliche Auseinandersetzung. Leider wird der Ton in unserer Gesellschaft aber immer rauer: unanständige Kommentare und ein aggressiver Sprachgebrauch, ja sogar die Androhung von Gewalt gehören nicht mehr nur im Internet zum „daily business“. Gerade in den Sozialen Medien wird man schnell zur Zielscheibe; aber auch Personen, die noch ganz und gar auf die Öffentlichkeit der analogen Welt setzen, bleiben nicht verschont. Wir alle beklagen einen Mangel an Anstand in der Gesellschaft. Was genau aber heißt das – Anstand?
Wie sieht Anstand in der digitalen Welt aus?
Ich persönlich bin als praktizierende Christin überzeugt, dass insbesondere christliche Werte wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe eine wesentliche Orientierung für ein anständiges, zivilisiertes Miteinander sind. Deshalb freue ich mich, dass sich die Kirchen gemeinsam mit anderen Beteiligten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen des Themas „Anstand im digitalen Zeitalter“ annehmen. Mit dem Projekt #anstanddigital der Katholischen Akademie in Berlin und des Kulturbüros der Evangelischen Kirche in Deutschland gehen wir den Fragen nach: Wie sieht ein zivilisiertes Miteinander in der digitalen Welt aus? Wie stellen wir sicher, dass Debatten im Netz nicht die Spaltung unserer Gesellschaft vertiefen, sondern zu Verstehen und Verständigung beitragen? Welche Haltung, welche Umgangsformen braucht es dafür? Unter dem Titel „Höflichkeit als digitale Währung“ will das von uns geförderte Projekt die Diskussion darüber anregen, wie wir uns im Internet begegnen.
Das ist wichtiger denn je: Hass und Hetze im Netz haben bereits einen erheblichen Anteil daran, dass unsere Gesellschaft weiter auseinanderdriftet. Wir müssen also wieder dahin kommen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen und uns darüber verständigen, was wir unter einem anständigen Diskurs verstehen. Verständigung setzt Verstehen voraus, und dafür wiederum braucht es Respekt und Empathie sowie die Bereitschaft, zuzuhören und in einen Dialog einzutreten. Oder auch die Fähigkeit, die Perspektive wechseln zu können. Das, was ich als unangebracht oder beleidigend empfinde, wird von anderen nicht unbedingt als unangebracht oder beleidigend angesehen. Oder nur ein bisschen unangebracht und beleidigend, dafür aber unterhaltsam.
Hass darf den Diskurs nicht ersticken
Worte sind ja nicht nur Worte. Sie sind Ausdruck einer Haltung. Und: Schnell werden aus Worten Taten. Wer schon einmal Zielscheibe entwürdigender Kommentare war, der weiß, wovon ich spreche. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung stellt fest, dass viele Betroffene sich teilweise oder gar vollständig aus öffentlichen Diskursen zurückziehen. Und genau das ist fatal. Denn es wäre der Sieg derer, die durch ihre Pöbeleien jegliche Kultur und Kultiviertheit und jeden Anstand über Bord werfen. Wer hofft, davon in einer analogen Blase verschont zu bleiben, der irrt. Die digitale und die analoge Welt gehören zu ein und derselben Realität.
Deshalb liegt mir so viel an einer konstruktiven und anregenden Debatte über Umgangsformen im digitalen Zeitalter. Wir fördern verschiedene Projekte für eine gewinnbringende Nutzung der Digitalisierung für Kultur und Medien. Ihre Ziele lauten: Vermittlung, Vernetzung und Verständigung. Insbesondere zur Verständigung soll das Projekt #anstanddigital beitragen. Denn wer, wenn nicht die Kultur, soll die gesellschaftliche Debatte über Licht, aber auch über Schatten der Digitalisierung anregen? Die Digitalisierung prägt unsere Kultur, aber unsere Kultur muss auch die Digitalisierung prägen. Das heißt: Wir müssen die Gemeinsinn stiftenden und Brücken schlagenden Kräfte der Kultur in die digitale Welt übertragen. So ist die anständige Haltung, mit der wir uns in der digitalen Welt als Menschen gegenübertreten, auch Teil der Medienkompetenz, die wir nicht nur Kindern und Jugendlichen vermitteln müssen.
Die Gemeinsinn stiftenden und Brücken schlagenden Kräfte der Kultur müssen wir in die digitale Welt übertragen. Mit ihrer Kraft, uns fremde Schicksale vertraut zu machen, sind Literatur, Theater oder Film deshalb auch Hoffnungsträger: Wo Hass und Hetze gegen Anderslebende sich wie ein Virus verbreiten, können Künstlerinnen und Künstler Köpfe und Herzen gegen dieses Virus immunisieren. Sie können Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie.
Trauen wir uns also wieder, im Sinne Eugen Ruges, uns zu irren, uns sachlich zu streiten, uns höflich auf Dinge hinzuweisen und uns so miteinander zu verständigen!
Monika Grütters ist Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Am Montag diskutierte sie bei der Veranstaltung „#anstanddigital“ der Katholischen Akademie in Berlin im Futurium über die Frage „Welche Haltung und Umgangsformen braucht das Netz?“.