Standpunkte KI ist nicht gleich KI – warum Allzwecklösungen nicht helfen

Der Gesundheitssektor steht unter massivem Druck. Fachkräftemangel, explodierende Kosten, ein demografisch bedingter Anstieg der Patientenzahlen und ein zunehmender Dokumentationsaufwand belasten das System. Als vermeintliche Lösung kommen Allzweck-KI-Lösungen zum Einsatz, die für das Gesundheitswesen nicht geeignet sind.
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Jetzt kostenfrei testenFür „First AId“ – Eine Studie über Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen – befragte Yougov im vergangenen Jahr im Auftrag von Corti 1794 Fachkräfte aus dem Sektor in Europa, davon 520 in Deutschland. Die Studie untersuchte die aktuellen Herausforderungen im europäischen Gesundheitswesen und das Potenzial von KI, diese zu lösen. Zu den häufigsten Problemen gehören eine hohe Patientenbelastung, eine Überlastung mit Verwaltungsaufgaben und Schwierigkeiten bei der Sicherstellung einer optimalen Patientenversorgung.
Die erhobenen Zahlen sind besorgniserregend: 41 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen leiden aus diesen Gründen monatlich unter Burnout und ein Viertel (24 Prozent) erwägt mindestens einmal pro Woche, ihren Job zu kündigen. Drei Viertel (74 Prozent) der Befragten befürworten den Einsatz von KI im Gesundheitswesen, doch weniger als 50 Prozent würden gerne aktuelle KI-Lösungen nutzen.
Was läuft also schief? Die Fachkräfte erhoffen sich nicht nur Hilfe bei der Bewältigung des Verwaltungsaufwands, sondern auch bei der Bewertung von Patientenrisiken, der Langzeitüberwachung, der Entscheidungsfindung oder bei der Einholung von Zweitmeinungen. Die Liste der Bedürfnisse ist lang, aber KI, die auf Allzweckmodellen basiert, kann ihr Versprechen im Gesundheitswesen nicht einhalten.
Es braucht eine spezielle KI für den Gesundheitssektor
KI ist nicht gleich KI, aber die meisten Anwendungen im Gesundheitswesen basieren heute auf Allzweckinfrastrukturen, was damit vergleichbar ist, bei einer Herzoperation ein Schweizer Taschenmesser anstelle eines chirurgischen Messers, eines Skalpells, zu verwenden. Es reicht nicht aus, sich auf LLMs (Large Language Models) wie ChatGPT oder, in jüngerer Zeit, Deepseek zu verlassen. Der Gesundheitssektor hat spezielle Anforderungen, die eine Allzweck-KI schnell überfordern würden.
Die Lösung liegt in einer KI, die speziell für den Gesundheitssektor entwickelt wurde. Dieser Ansatz kann auch anfängliche Bedenken hinsichtlich der Genauigkeit von KI und mangelndes Vertrauen in KI ausräumen. Zu den Gründen für die bisherige KI-Skepsis gehörten Berichte über KI-Halluzinationen generativer KI, also überzeugend präsentierte Ergebnisse, die sich bei objektiver Überprüfung als falsch herausstellen. In den USA verbringt ein Drittel der medizinischen Fachkräfte, die KI einsetzen, bis zu drei Stunden pro Woche damit, sie zu korrigieren. Diese Probleme beziehen sich auf universelle LLMs, die für Sektoren mit hohen Anforderungen wie das Gesundheitswesen nicht in Frage kommen sollten.
Was aber macht spezialisierte KI-Tools so viel leistungsstärker? Die Antwort ist am Ende ganz einfach: Sie wurden auf der Grundlage von Gesundheitsdaten und anhand von echten Patienteninteraktionen erstellt und trainiert, und nicht durch frei verfügbares, aber in seiner Qualität so gut wie nie überprüfbares Internetwissen. Vergleichstests haben ergeben, dass für die Medizin spezialisierte KI-Tools ihre Ergebnisse deshalb nicht nur bis zu 35 Mal schneller erbringen, sondern bei der Zuverlässigkeit der Ergebnisse die Allzweck-KIs auch um 25 Prozent schlagen.
Und genau damit machen sie den Unterschied im Gesundheitswesen aus und ermöglichen den Fachkräften, sich auf das zu konzentrieren, was sie am besten können: die eigentliche Patientenversorgung.
Den Anfang muss die Vertrauensbildung machen
Der Einsatz von KI dient mittlerweile aber nichtmehr nur der Effizienzsteigerung, sondern wirkt sich auch direkt auf die Behandlungsergebnisse aus. KI ermöglicht eine schnellere, genauere und individuellere Versorgung. Im Gegensatz zu Interventionen nach einem Ereignis kann die Unterstützung durch KI die medizinische Praxis in Echtzeit verbessern und als Informationsquelle dienen, auf die Fachleute im Zweifelsfall zurückgreifen können.
Durch die Sammlung von Erkenntnissen aus Fallnotizen, Team-Know-how und validierten Datensätzen kann ein KI-Tool kontextbezogene Zweitmeinungen liefern, die auf die jeweilige Situation zugeschnitten sind. So sind zum Beispiel die Symptome einer Nackenverspannung ähnlich den Symptomen einer Meningitis im Anfangsstadium, was dazu führt, dass diese in der Praxis noch viel zu oft falsch beurteilt werden. Eine KI, die darauf trainiert ist, solche Feinheiten zu erkennen, kann den Medizinern unmittelbar mit einer entsprechenden Information bei der Beurteilung helfen und so in Echtzeit die Qualität der Behandlung verbessern.
Um das Potenzial von KI im Gesundheitswesen auszuschöpfen, müssen jedoch einige Herausforderungen bewältigt werden. Der Aufbau von Vertrauen ist der Schlüssel zur Erschließung ihres Potenzials. Zwar gibt es bei den medizinischen Fachkräften erste Unterstützung für den Einsatz von KI, doch insbesondere bei höherwertigen Anwendungen wie Echtzeit-Feedback und Diagnoseunterstützung herrscht noch Zurückhaltung. Wenn die Vorteile von KI genutzt werden sollen, müssen die Angst vor Fehlern, Datenschutzbedenken und die Sorge, dass KI den Menschen ersetzt, angegangen werden.
Der Fortschritt der KI in den kommenden Jahren wird ohne Zweifel eine Welle von Veränderungen mit sich bringen. Doch diese Veränderungen bieten die Chance, einen wirklichen Unterschied zu machen und am Ende den Fachkräften genau das zu bieten, was sie sich am meisten wünschen – mehr Zeit für die Patienten.
Florian Schwiecker ist seit Februar 2021 als Chief Partnerships Officer im Management von Corti, einem Anbieter von KI für den Gesundheitssektor, tätig.
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