Digitalisierung-KI icon

Digitalisierung & KI

Standpunkte Lippenbekenntnisse schaffen keine digitale Souveränität

Henning Tillmann, Informatiker und von 2022 bis 2024 Mitglied des Beirats Digitalstrategie
Henning Tillmann, Informatiker und von 2022 bis 2024 Mitglied des Beirats Digitalstrategie Foto: Dominik Butzmann

Die digitale Souveränität Deutschlands steht auf dem Spiel – und die bisherigen politischen Maßnahmen reichen nicht aus, um das Land unabhängiger von ausländischen Tech-Konzernen zu machen, findet Henning Tillmann, früheres Mitglied im Beirat Digitalstrategie. Für ihn offenbaren die Pläne aus den Koalitionsverhandlungen wenig Ambition, obwohl die Risiken politischer, wirtschaftlicher und sicherheitstechnischer Natur gravierend seien.

von Henning Tillmann

veröffentlicht am 27.03.2025

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Die ersten Zwischenergebnisse der Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU und SPD sind im Hinblick auf digitale Souveränität ambitionslos. Die Abhängigkeit von US-amerikanischen Anbietern ist gravierend und birgt erhebliche politische, wirtschaftliche und sicherheitstechnische Risiken. Der Satz „Digitalpolitik ist Machtpolitik“ im Entwurf für den Koalitionsvertrag muss mit Leben gefüllt werden, wenn er nicht wie ein Soufflé im Ofen zusammenfallen soll.

Die unsichtbare Abhängigkeit

Die digitale Infrastruktur Deutschlands ist in weiten Teilen von Software, Cloud-Diensten und Plattformen aus den USA abhängig. Öffentliche Verwaltungen nutzen Microsoft-Produkte, die Verwaltungscloud basiert auf US-Technologie, und selbst in der Cybersicherheit dominieren ausländische Anbieter. Die Kosten dieser Abhängigkeit sind enorm: 90 Prozent der Bundesausgaben in Form von Rahmenverträgen fließen an ausländische Unternehmen, vor allem in die USA. 2023 hat Microsoft die Preise für Cloud-Dienste um 11 Prozent erhöht, ohne dass Deutschland darauf Einfluss hatte.

Die Agora Digitale Transformation hat durch eine Analyse von Einzeltiteln des Bundeshaushalts ermittelt, dass jährlich circa 20 Milliarden Euro in den Digitalhaushalt gehen. Der größte Anteil entfällt auf Hardware- und Softwarebeschaffung beziehungsweise deren Lizenzen, sowie auf externe Dienstleistungen und Beratungen. Eine konkrete Steuerung gibt es nicht, wodurch Doppelausgaben wahrscheinlich sind.

Diese digitale Fremdbestimmung birgt auch politische Gefahren. Die Snowden-Enthüllungen haben bereits 2013 offenbart, dass US-Geheimdienste weitreichenden Zugriff auf Daten von US-Unternehmen haben, unabhängig vom Speicherort. Der Cloud Act verpflichtet US-amerikanische Firmen, Daten auf Anordnung herauszugeben, auch wenn diese in der EU gehostet werden. Deutsche Behörden, die sensible Informationen in US-Clouds speichern, setzen sich damit der Gefahr aus, dass fremde Staaten Zugriff auf Bürger- und Verwaltungsdaten erhalten oder diesen sogar unterbinden könnten.

Digitale Abhängigkeit als geopolitischer Hebel

Diese Abhängigkeit ist nicht nur eine Frage der Bequemlichkeit, sondern kann im geopolitischen Konfliktfall zum massiven Problem werden. Was passiert, wenn die Trump-Administration den Zugang zu essenziellen IT-Diensten einschränkt oder Preise durch Digitalzölle ins Unermessliche steigen? Ein funktionierender Staat kann es sich nicht leisten, von der Gunst ausländischer Konzerne oder Politiker, die die westliche Wertebasis nicht (mehr) teilen, abzuhängen.

Auch öffentliche digitale Räume werden zunehmend von US-Konzernen kontrolliert. Dass Bundesminister, Verwaltung und Abgeordnete weiterhin auf X kommunizieren, einer Plattform, die demokratiefeindliche Inhalte algorithmisch begünstigt, ist fatal und politisch naiv. Deutschland muss eigene digitale öffentliche Räume fördern, anstatt sich der Willkür ausländischer Tech-Milliardäre auszusetzen.

Es gibt Alternativen – sie müssen genutzt werden

Digitale Souveränität ist kein utopisches Konzept. Deutschland und Europa verfügen bereits über zahlreiche Alternativen, die konsequenter genutzt werden könnten. Open-Source-Software ist in vielen Bereichen eine erprobte und tragfähige Lösung. Deutsche Unternehmen wie Nextcloud, Open-Xchange oder Mastodon beweisen, dass innovative Lösungen aus Europa kommen können.

Dennoch bleibt Open Source in der Bundesverwaltung eine Randerscheinung: Nur 0,5 Prozent der Software-Ausgaben entfallen darauf, obwohl die Ampel-Regierung im Koalitionsvertrag versprochen hatte, Entwicklungsaufträge „in der Regel als Open Source“ zu beauftragen. Damit war sie zumindest im Wort konkreter als Schwarz-Rot aktuell – obwohl die Ampel in der Praxis sehr weit hinter ihren Ansprüchen zurückblieb.

50 Prozent Open Source bis 2029 ist ein Minimum

Das Problem ist daher nicht die Technologie, sondern der fehlende politische Wille. Jutta Horstmann, Geschäftsführerin des Zentrums für Digitale Souveränität (Zendis), fordert zurecht: 100 Prozent Open Source auf Bundesebene bis 2035. Bis dahin könnte es jedoch zu spät sein. Es braucht mehr Ambition mit konkreten Zwischenzielen, beginnend in dieser Legislaturperiode. 50 Prozent bis 2029 kann da nur das kleinste Ziel sein – und selbst darauf konnten sich die Parteien bis jetzt nicht einigen.

Was jetzt geschehen muss

Die digitale Souveränität darf nicht länger ein Randthema sein, sondern muss zur zentralen Aufgabe der neuen Koalition werden. Konkret heißt das für den Koalitionsvertrag:

  1. Verbindliche Open-Source-Quoten: Jede neue Software muss in der Regel Open Source sein. Zusätzlich muss schrittweise bis 2029 eine Umstellung von 50 Prozent der bestehenden Bundes-Software stattfinden.
  2. Investitionen in digitale Unabhängigkeit: Die Bundesregierung muss Institutionen wie Zendis, den Digital Service oder den Sovereign Tech Fund massiv fördern. Die Haushaltsmittel sind im Vergleich zu den Ampel-Jahren um den Faktor 2 bis 5 zu erhöhen.
  3. Abkehr von US-Plattformen in der Verwaltung und Politik: Die Nutzung von US-dominierten Cloud-Diensten und Social-Media-Plattformen muss schrittweise beendet werden. Kommunikation der Exekutive darf primär und mit zeitlichem Vorsprung nur auf eigenen Plattformen und auf Plattformen, die nicht algorithmisch von Nicht-EU-Firmen kontrolliert werden, stattfinden.
  4. Wer souverän sein will, muss Verschlüsselung und IT-Sicherheit ernst nehmen: Es ist ein Widerspruch, Souveränität zu fordern, aber seine eigene Software für Staatstrojaner anfällig zu lassen. Wer außerdem Verschlüsselung auch nur minimal aufweicht, führt alles weitere ad absurdum.

Digitale Souveränität ist eine Frage der Macht

Ähnlich wie in der Energiepolitik ist Unabhängigkeit nicht nur wünschenswert, sondern essenziell für die Sicherheit des Landes. Die Umstellung wird Geld kosten, sie wird Kraft kosten – aber sie ist alternativlos.

Die Lippenbekenntnisse zu Open Source und digitaler Souveränität müssen durch konkrete Maßnahmen ersetzt werden. Die Parteivorsitzenden der SPD waren beide zuvor im Parlament in der Digitalpolitik aktiv und erkennen hoffentlich den Ernst der Lage. Und Friedrich Merz bezeichnete ein starkes, von den Vereinigten Staaten unabhängiges Europa als seine „absolute Priorität“. Die Parteispitzen werden nun entscheiden müssen, ob es tatsächlich um Machtpolitik oder nur schöne Überschriften geht.

Henning Tillmann ist selbständiger Informatiker. Er war von 2022-2024 Mitglied des Beirats Digitalstrategie der Bundesregierung und zuvor langjähriger Vorsitzender des Thinktanks D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt. Tillmann ist Mitglied der SPD.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen