Der digitale Wandel hat einen immer stärkeren Einfluss auf unser tägliches Leben und führt zu tiefgreifenden Veränderungen in fast allen Bereichen der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft. Obwohl die Strategie der Europäischen Kommission zur Schaffung eines digitalen Binnenmarkts ein erster wichtiger Schritt war, um die Europäische Union zukunftssicher für das digitale Zeitalter zu machen, konnte sie viele relevante politische Fragen nicht beantworten.
Abhängigkeit Europas wird zur Gefahr
Trotz unseres Anspruchs, als Europäische Union auch in Zukunft auf globaler Ebene wettbewerbsfähig zu sein, verlieren wir in der digitalen Welt immer mehr den Anschluss. So kam im Jahr 2019 keines der fünfzehn führenden Digitalunternehmen aus Europa. Auch gibt es weiterhin kein nennenswertes europäisches Betriebssystem, keinen Browser, kein soziales Netzwerk, kein Nachrichtendienst und keine Suchmaschine. Zwar sind europäische Systemintegratoren, Telekommunikationsanbieter oder Netzwerkausrüster weltweit noch immer führend, unsere wachsende Abhängigkeit von Software, Hardware und Cloud-Diensten aus Drittstaaten ist dennoch zutiefst beunruhigend.
Da die digitale Umwälzung derzeit gerade von diesen drei Sektoren sowie von führenden digitalen Plattformen vorangetrieben wird, laufen wir Gefahr, dass die wichtigsten neuen Technologien vollständig von außereuropäischen Akteuren geprägt werden – und zwar insbesondere von solchen, welche unsere Grundwerte, Traditionen und Standards nicht teilen oder sogar versuchen, diese aktiv zu untergraben. Die möglichen Auswirkungen auf unseren Wohlstand, Privatsphäre und Sicherheit sind dabei nicht zu unterschätzen. Bislang reagierte die Politik auf diese Herausforderungen jedoch erst nach langwierigen Entscheidungsprozessen und auch dann nur mit einer Vielzahl von fragmentierten Zwischenlösungen. Ein solches Vorgehen wird im schlimmsten Fall nicht nur verhindern, dass wir jemals mit der rasanten technologischen Entwicklung Schritt halten werden, es könnte bei unseren Bürgern zudem der Eindruck entstehen, dass die politische Führung in Europa die Kontrolle verloren hat – eine Wahrnehmung, die letztendlich das Vertrauen in unser demokratisches System erschüttern könnte.
Europäischer Weg heißt nicht Abschottung
Dieses Szenario macht es deutlich: Europa braucht umgehend eine umfassende, konsistente und ressortübergreifende digitale Agenda. Im Mittelpunkt sollte dabei das Konzept der digitalen Souveränität stehen – ein dritter, europäischer Weg der Digitalisierung, der im Gegensatz zum US-amerikanischen Datenkapitalismus oder dem chinesischen Überwachungsansatz den Menschen und unsere Europäischen Werte in den Mittelpunkt stellt und auf dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft beruht. Mit diesem Ansatz könnte ein digitales Umfeld geschaffen werden, in dem die individuelle Selbstbestimmung sowie die persönlichen Freiheiten garantiert werden und dabei gleichzeitig unsere digitale Abhängigkeit reduziert wird.
Das Streben nach digitaler Souveränität sollte jedoch nicht bedeuten, dass die Europäische Union protektionistischer wird. Wir sind und wir sollten immer ein Verfechter der internationalen Zusammenarbeit, des freien Datenverkehrs und des internationalen Handels sein. Zudem sind viele digitale Innovationen von komplexen Wertschöpfungsketten, von kollaborativen Ökosystemen und von gut funktionierenden Beziehungen mit internationalen Partnern abhängig. Die digitale Souveränität Europas sollte daher vielmehr darauf abzielen, dass wir in Zukunft möglichst eigenständig über die Parameter entscheiden, anhand derer wir digitale Technologien nutzen wollen. Anstatt alle nichteuropäischen Unternehmen vom digitalen Binnenmarkt auszuschließen, sollten wir die Zusammenarbeit mit vertrauenswürdigen internationalen Partnern, die unsere Werte teilen, sogar noch verstärken. Gleichzeitig müssen wir umfangreiche und langfristige Investitionen in Schlüsselsektoren tätigen, um das Wachstum unserer Unternehmen und ihre globale Wettbewerbsfähigkeit zu fördern.
Einen Digitalen Binnenmarkt 2.0 schaffen
Die Umsetzung dieser Agenda wird nicht einfach sein und erfordert unter anderem das Einbringen neuer Ideen und Konzepte in die politische Debatte, eine engere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und dem Privatsektor, ein besseres Gleichgewicht zwischen Innovation und Regulierung sowie neue Rechtsetzungsverfahren, die mit der rasanten digitalen Entwicklung Schritt halten können. Zuvor brauchen wir allerdings erst einmal eine gründliche strategische Analyse: ein klares Bild unserer Stärken, auf denen wir aufbauen sollten, unserer kritischen Schwächen, die wir überwinden müssen und der zukünftigen disruptiven Technologien, in welche wir stark investieren müssen. In der Überzeugung, dass dieser Ansatz Europas beste Option für eine prosperierende digitale Zukunft ist, fordere ich die EU-Institutionen auf, einen Digitalen Binnenmarkt 2.0 zu schaffen.
In den letzten Monaten habe ich zu diesem Thema zahlreiche Gespräche mit Bürgern, Wissenschaftlern, Verbraucherschutzorganisationen, Sozialpartnern, Nichtregierungsorganisationen, der Privatwirtschaft, Richtern und Parlamentariern sowie mit europäischen Agenturen und nationalen Ministerien geführt. Gemeinsam haben wir ein umfassendes Spektrum an Herausforderungen und Lösungen identifiziert, die ich in einem digitalen Manifest zusammengefasst habe. Dieses kann seit heute ab 10 Uhr auf meiner Homepage abgerufen werden. Ich unterstütze diese digitale Agenda von ganzem Herzen und werde mit meinem politischen Mandat zu ihrer Verwirklichung in dieser Legislaturperiode beitragen.
Axel Voss (CDU) ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments und der Sprecher der Europäischen Volkspartei im Rechtsausschuss. Der ehemalige Berichterstatter für die EU-Urheberrechtsreform wird in dieser Legislaturperiode u.a. an dem geplanten Gesetzesvorhaben zur Künstlichen Intelligenz (KI), der E-Privacy-Verordnung und der Prozessfinanzierung mitwirken.