Noch vor wenigen Jahren schien das Metaverse das nächste große Ding zu sein – ein Hype-Thema, das nicht nur die Tech-Welt in Atem hielt, sondern auch die große Politik in Brüssel beschäftigte. So veröffentlichte die Europäische Kommission im Juli 2023 eine erste Strategie für virtuelle Welten und das Web 4.0. Basierend auf vier Säulen und zehn konkreten Maßnahmen skizzierte sie darin die Vision eines offenen, sicheren und fairen virtuellen Umfelds für EU-Bürger und Unternehmen.
Doch heute scheint das Metaverse in einen Dornröschenschlaf gefallen zu sein. In den aktuellen politischen Leitlinien und „Mission Letters“ der neuen Europäischen Kommission dominieren der Hype um Künstliche Intelligenz (KI) und geopolitisch bedingte Sicherheitsthemen – Virtual und Augmented Reality (VR und AR) hingegen werden kaum noch erwähnt. Unterschätzt Europa das Potenzial des Metaverse?
Nachlassendes Interesse – und nachlassende Kompetenzen?
Der „State of the Digital Decade 2024“-Bericht der Europäischen Kommission zeigt deutlich, dass die EU bei Schlüsseltechnologien wie Cloud, Big Data und KI hinterherhinkt – also Technologien, die für die Entwicklung von virtuellen Welten entscheidend sind. Letztere bieten jedoch ein enormes Potenzial für Fortschritte in Wissenschaft, Industrie und Gesellschaft, etwa durch sogenannte digitale Zwillinge. VR- und AR-Anwendungen verbessern schon heute die Patientenversorgung, steigern Industrieproduktivität und ermöglichen innovative Lernansätze im Bildungsbereich – Bausteine, die für die Doppel-Transformation Europas eigentlich dringend benötigt werden.
In einer jüngsten Stellungnahme verschiedener Metaverse-Akteure wird die EU daher aufgefordert, einen „koordinierten Plan für virtuelle Welten“ zu verabschieden, um die Entwicklung eines europäischen Metaverse-Ökosystems zu beschleunigen. Dieser solle sich auf die Einführung von VR-Lösungen in den Bereichen Industrie, öffentlicher Sektor und Unternehmen konzentrieren – vergleichbar etwa mit der angedachten „Apply AI“-Strategie. Er müsse zudem die strategische Koordination mit internationalen Partnern vorantreiben und die Finanzierung von Projekten für den Privatsektor erweitern. Die Unterzeichnenden der Stellungnahme verweisen dabei auf Projekte wie Sermas, Cortex 2 und Vox Reality: allesamt von der EU geförderte Forschungs- und Entwicklungsinitiativen, die sich auf soziale Akzeptanz oder Demokratisierung des Zugangs zu VR- und AR-Systemen konzentrieren.
Globale Entwicklungen setzen die EU unter Druck
Trotz dieser Appelle scheint die nächste Kommission das Metaverse nicht auf ihrer Prioritätenliste zu haben. Dies ist umso beunruhigender, als die großen Akteure der Branche nicht auf Europa warten. So hat Apple im Juni 2024 mit der Vision Pro ein hochmodernes AR/VR-Headset auf den Markt gebracht, das mit beeindruckender Auflösung, fortschrittlicher Sensortechnologie und einem Preis von knapp 3.500 Euro auf das High-End-Segment des Marktes zielt. Während das die Innovation beschleunigen und neues Verbraucherinteresse wecken könnte, birgt es auch die Gefahr einer Fragmentierung des Marktes. Kleine Entwickler mit Sitz in der EU könnten gezwungen sein, sich auf das Apple-Ökosystem zu konzentrieren, was die zukünftige Interoperabilität erschweren würde.
Trotz kumulierter Verluste von 45 Milliarden US-Dollar in den letzten vier Jahren in seiner Reality Labs Division zeigt auch Meta, das Unternehmen hinter Facebook, keine Anzeichen einer Verlangsamung. Das Unternehmen bietet seit kurzem Meta Quest 3 an, ein VR-Headset mit verbesserten Funktionen und einem wettbewerbsfähigen Preis. Darüber hinaus arbeitet Meta an der Entwicklung von Horizon Worlds, einer sozialen VR-Plattform. Mit über 3 Milliarden aktiven Nutzern auf seinen Plattformen könnte Meta die notwendigen Netzwerkeffekte nutzen, um De-facto-Standards zu setzen und den Markt nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.
Die Situation hat sich weiter verschärft, da Microsoft vor kurzem die Einstellung seines Holo-Lens-Projekts angekündigt hat. Neben VR-Brillen betrifft die Entwicklung des Metaverse viele andere geopolitisch relevante Technologien, wie etwa fortschrittliche Halbleiter für KI-Berechnungen, 5G- und zukünftige 6G-Netze für nahtlose Konnektivität, Quantencomputing für komplexe Simulationen sowie Blockchain-Technologien für dezentrale virtuelle Ökonomien.
Doch was oft übersehen wird: Während Verweise auf das Metaverse aus den EU-Leitlinien verschwunden sind und US-amerikanische Tech-Giganten die Schlagzeilen beherrschen, arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommission hinter den Kulissen weiter an wichtigen Initiativen, die den Grundstein für die künftige Entwicklung des Metaverse legen könnten. Auch wenn diese Bemühungen weniger Medienaufmerksamkeit erhalten, könnten sie für die langfristige digitale Souveränität Europas von Bedeutung sein.
Europas stiller Fortschritt hinter den Kulissen
Ein wichtiges Element dieser Bemühungen ist die EU-Initiative Saref (Smart Applications Reference), die darauf abzielt, die Kommunikation zwischen Geräten im Internet der Dinge zu standardisieren. Durch die Bereitstellung einer gemeinsamen semantischen Sprache können Geräte unterschiedlicher Hersteller nahtlos miteinander interagieren. Auf einem EU-Workshop im September 2024 wurden die neuesten Aktualisierungen der Saref-Ontologie vorgestellt, darunter Erweiterungen für spezifische Sektoren wie Energie, Gebäude und Industrie 4.0. Die geplante Entwicklung einer europäischen Norm für Saref ist ein wichtiger Schritt, um die für europäische Unternehmen essenzielle Interoperabilität zu fördern und mehr digitale Zwillinge zu ermöglichen.
Das kürzlich gestartete EU-Pilotprojekt zu Web 4.0 und virtuellen Welten, das sich explizit auf Aktionspunkt 9 der Strategie für virtuelle Welten stützt, zielt ebenfalls darauf ab, ein ausgewogeneres Spielfeld für europäische Unternehmen zu schaffen. Das Projekt treibt die Bewertung aktueller technischer Entwicklungen für das Metaverse voran, führt den Dialog über Governance-Standards weiter und verweist auf Ideen wie regulatorische Sandboxen für virtuelle Welten. Zudem wird eine hochrangige globale Multi-Stakeholder-Konferenz geplant, die mit der polnischen EU-Ratspräsidentschaft 2025 organisiert werden soll.
Nicht zuletzt ist aus Metaverse-Sicht der mit Spannung erwartete Digital Fairness Act zu erwähnen. Laut EU soll die Initiative Themen wie Dark Patterns und süchtig machendes Design in digitalen Produkten aufgreifen, um unfaire Wettbewerbspraktiken zu verhindern – was zwangsläufig auch Praktiken im Metaverse betreffen wird. Eine unterstützende Studie stellte fest, dass Verbraucher anfälliger für unzulässige Beeinflussung sind, „wenn sie in Spiele oder virtuelle Welten eintauchen“.
Das Gesetz bietet daher die Chance, das Verbraucher- und Vertragsrecht der EU an die Gegebenheiten des Metaverse anzupassen, wie auch die jüngsten Berichte des Rechtsausschusses und des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz angemahnt haben. Diese empfehlen, Regelungslücken zu untersuchen und halbjährlich über neue Risiken für Verbraucher und Unternehmen zu berichten.
Fazit: Jetzt handeln!
Trotz der zunehmenden Innovation im Hardwarebereich besteht aus europäischer Sicht weiterhin die Gefahr einer Marktkonzentration. Wenn amerikanische Tech-Giganten den Metaverse-Markt nach ihren Vorstellungen gestalten, könnte dies letztlich zu geschlossenen Ökosystemen führen, die den Wettbewerb behindern und KMU mit Sitz in der EU ausschließen. Die neue Kommission sollte daher die begonnenen Detailprojekte zur Interoperabilität fortführen und die Standardisierung vorantreiben – auch wenn dies sperrig klingt, wird es für den reibungslosen Ablauf künftiger Metaverse-Geschäftsmodelle unerlässlich sein. Die Technologie wartet nicht und die Europäische Union muss handeln, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Anselm Küsters leitet den Fachbereich Digitalisierung und Neue Technologien am Centrum für Europäische Politik (Cep) in Berlin.