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Digitalisierung & KI

Standpunkte Schlechte Politik nährt sich aus Mythen

Foto: Stephan Dreyer und Matthias C. Kettemann (Foto: Promo)

Stephan Dreyer (l.) und Matthias C. Kettemann, Forscher am Hans-Bredow-Institut, haben internetbezogene Mythen gesammelt. 50 davon entlarven sie in einem Buch, das heute beim Internet Governance Forum vorgestellt wird. Warum Fehlinformation gerade im Digitalbereich Schaden anrichten können, erläutern sie in ihrem Gastbeitrag.

von Stephan Dreyer und Matthias C. Kettemann

veröffentlicht am 27.11.2019

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„Algorithmen sind neutral. Künstliche Intelligenz wird es schon richten. Die Privatsphäre ist tot.“ Das Internet ist voller Mythen wie diesen. Psychologisch gesehen sind solche Mythen attraktiv, weil sie intuitiv zu sein scheinen. Mythen sind hilfreiche Vereinfachungen in immer komplexeren Zeiten. Sie schlagen vor, dass wir aufhören zu reflektieren, aufhören, den Status quo in Frage zu stellen, aufhören zu überlegen. Algorithmen sind neutral? Passt. Dann brauchen wir uns ja keine Sorgen zu machen, wie diese rechenschaftspflichtig eingesetzt werden können.

Mythen sind verführerisch

Mythen verschleiern, worum es tatsächlich geht. Dies ist genau der Grund, warum es internetpolitische Kräfte gibt, die ein begründetes Interesse daran haben, Mythen zu verbreiten. Die Monster der schlechten Politik lauern im Schatten der Mythen über die Art und Weise, wie das Internet betrieben wird. Sie ernähren sich von Desinformation, Fehlinformation und dem unkritischen Glauben an Geschichten, die wir uns selbst erzählen, um den Welten, in denen wir uns bewegen, Sinn und Struktur zu geben.

Mythen sind verführerisch. Cyberkriminelle, die nicht verfolgt werden können – das klingt doch wie etwas, was Sie vielleicht gelesen haben. Aber kann Recht online wirklich nicht durchgesetzt werden? Oder verbirgt der Mythos die unangenehme Wahrheit, dass es nicht immer einfach ist, Online-Forensik zu betreiben; dass dies Geld und eine institutionelle Neuorientierung voraussetzt?

Wenn Suchmaschinen objektive Ergebnisse liefern, besteht keine dringende Notwendigkeit, einen gesellschaftlichen Diskurs über ihre Verantwortung zu eröffnen; keine Notwendigkeit, über die Gewährleistung von Meinungsvielfalt zu sprechen. Wenn die Privatsphäre tot ist, warum sollte man sich dann über Datenschutzverletzungen aufregen?

Vereinfachungsrezepte sind gefährlich

Mythen machen unser Leben leichter. Sie sind Vereinfachungsrezepte. Wie viele andere (auch kognitive) „Shortcuts“ können Mythen nützlich, teilweise nicht einmal falsch sein oder jedenfalls auf ehrlichen Überzeugungen beruhen. Individuell sind Mythen auch nicht besonders gefährlich (jenseits kognitiver Verzerrungen des eigenen Blicks auf die Welt, aber wer ist schon objektiv). Richtig herausfordernd werden Mythen aber, wenn sie gesellschaftsfähig werden und sogar als Rechtfertigung für politische Interventionen (oder Nichtinterventionen) herangezogen werden. Es sind ihre Externalitäten, die die Mythen gefährlich machen, ihre Wirkung auf das Gemeinwesen, auf sozialen Zusammenhalt.

Viele, die Mythen benutzen, tun dies bewusst. „Mythos hat die Aufgabe, einer historischen Absicht eine natürliche Rechtfertigung zu geben“, wie der französische Kulturtheoretiker Roland Barthes schrieb. Aber jede normative Lösung für ein spezifisches Problem der Internetpolitik ist voraussetzungsreich. Wenn wir die Ursprünge des Internets, die Rolle von Algorithmen, den Charakter von Code, die Normativität von Regeln, den Pluralismus in Kulturen und Lebenskonzepten mystifizieren, verlieren wir den Überblick über historische Zusammenhänge, kulturelle Abhängigkeiten und die Bedingungen sozialer Kohäsion.

Vor diesem Hintergrund haben wir dazu aufgerufen, internetbezogene Mythen zu entlarven. Wir haben Einsendungen gesammelt und in einem Peer-Review-Verfahren die 50 repräsentativsten ausgewählt und von 50 Expertinnen und Experten aus drei Kontinenten bearbeiten lassen. 

Der gegenwärtige und zukünftige Mensch, wie der deutsche Philosoph Günther Anders die Menschen von heute und morgen beschrieb, ist gekennzeichnet durch eine Diskrepanz zwischen wachsenden technologischen Kapazitäten und dem Versagen der Vorstellungskraft, die Folgen der Technologie zu berücksichtigen. Zu oft werden Mythen benutzt, um diese Lücke auf zu einfache Art und Weise zu schließen.

PD Dr. Matthias C. Kettemann, LL.M. (Harvard), und Dr. Stephan Dreyer sind Forschungsprogrammleiter am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI), Hamburg. Ihr Buch Stimmt's? 50 Internetmythen auf dem Prüfstand stellen sie heute um 13.30 Uhr im Rahmen des Internet Governance Forum 2019 in Berlin vor.

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